Thomas Mann – das war lange ein Denkmal mit Lesebrille. Nobelpreisträger, Familienpatriarch, Moralist im Exil: Ein Mann aus Granit, unter dem nichts rutscht. Wer an ihm rüttelt, muss sehr sicher stehen oder sehr klug fragen. Tilmann Lahme tut beides. Seine Biografie, erschienen zum 150. Geburtstag bei dtv, ist keine Demontage, sondern eine geduldige Rekonstruktion – detailversessen, präzise, und voller ungemütlicher Einsichten.
Denn unter der Oberfläche der bekannten Rollen – Buddenbrook, Zauberberg, BBC – sitzt ein anderer Mann. Einer, der kontrollierte, was andere sehen sollten, und schwieg, wo es um das eigene Begehren ging. Lahme stellt diesen innerlich zerrissenen Thomas Mann ins Zentrum – und macht ihn damit sichtbarer als viele vor ihm.
Der Homosexuelle als bürgerliche Komposition
Was bislang in vorsichtiger Distanz besprochen wurde, wird bei Lahme zur Hauptspur: Thomas Manns Homosexualität ist kein Nebensatz mehr, sondern der Ausgangspunkt für eine neue Deutung. Lahme beruft sich dabei auf bislang vernachlässigte Zeugnisse, insbesondere auf zwei zentrale Briefe an den Jugendfreund Otto Grautoff. Dort schreibt der junge Mann mit 21 Jahren über seine „wacklige“ sexuelle Orientierung, spricht von philosophischer Objektivität und der Fähigkeit, sich selbst mit literarischem Blick zu betrachten – ein Selbstbild zwischen Distanz und Akzeptanz.
Diese Briefe, lange verschollen, werden bei Lahme zum Schlüsseltext einer Biografie, die zeigen will: Das Werk ist nicht trotz der verdrängten Homosexualität entstanden, sondern durch sie hindurch. Die „Galerie der Lieben“ aus den Tagebüchern, die jugendlichen Objekte der Sehnsucht, die verlegten Sehnsüchte – all das wird nicht mehr kaschiert, sondern aufgeschlüsselt.
Lahme schreckt nicht davor zurück, auch jene Tagebuchpassagen zu zitieren, die bislang lieber weggelassen wurden: Notizen zu Selbstbefriedigung, Samenergüssen, ehelichem Beischlaf, aber auch medizinischen Beschreibungen körperlicher Beschwerden. Das hat nichts Voyeurehaftes – vielmehr geht es um die Frage: Wie sehr wurde das eigene Begehren zur Disziplin, wie sehr zur literarischen Maske?
Homoerotische Maskenspiele im Werk
Die Literatur selbst wird bei Lahme zur Chronik des Verdrängten. Schon Tonio Kröger sei, so Lahme, die erste offen homoerotisch gefärbte Figur. Hans Hansen, das blonde Idealbild, ist keine Projektion, sondern Erinnerung. Thomas Mann habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass diese frühe Liebe autobiografisch grundiert ist. Lahme folgt dieser Spur mit analytischer Geduld – manchmal vielleicht etwas zu entschlossen –, und fragt, wie aus dem nicht gelebten Leben ein so dichtes Werk entstehen konnte.
Nicht alle Thesen sind gleich zwingend. Wenn Lahme etwa eine Anekdote der jungen Susan Sontag heranzieht, um Thomas Manns sexuelles Selbstverständnis weiter auszufalten, wirkt das bemüht. Und doch bleibt der Eindruck: Dieses Buch will nicht enthüllen, sondern entwirren – und dabei auch zeigen, wie sehr Thomas Mann selbst sein Leben literarisiert hat.
Der politische Spätzünder
Dass Thomas Mann sich vom deutschnationalen Konservativen zum entschiedenen Demokraten wandelte, ist bekannt – Lahme macht daraus aber kein Lehrstück, sondern eine Geschichte von intellektuellen Kratzspuren. Von den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ bis zu den scharfen BBC-Ansprachen an das „deutsche Volk“ zieht er eine Linie der langsamen, oft widerwilligen politischen Selbsterkenntnis.
Bemerkenswert ist auch, dass Lahme nicht beim Triumph des Exilredners stehenbleibt. Er zeigt ebenso, wie sehr Mann in den letzten Jahren zunehmend skeptisch auf die USA blickte – auf eine Nation, die im Kalten Krieg nach rechts driftete. Der alte Moralist hatte gelernt, dass man überall wach bleiben muss – auch in Demokratien.
Ein Versuch des Verstehens
Was diese Biografie auszeichnet, ist ihre unaufgeregte Radikalität. Sie will Thomas Mann nicht neu erfinden, sondern die Konturen schärfen, dort, wo sie allzu glatt geworden sind. Lahme zeigt den Autor als Kompositeur des eigenen Lebens, als Figur mit System – nicht erfunden, aber doch gebaut. Die Widersprüche sind nicht zu übersehen, aber sie machen nicht kleiner, was geblieben ist.
Doch bleibt am Ende auch eine Frage: Wie nahe kann man einem Menschen kommen, dessen Lebenswerk darin bestand, sich selbst zu gestalten? Wie viel lässt sich rückblickend deuten, rekonstruieren, interpretieren – und wie viel entzieht sich für immer? Auch Lahmes Biografie, so analytisch, so quellenstark, so gut begründet sie ist, bleibt ein Versuch. Kein Urteil, kein Porträt in Öl – eher eine Skizze mit hartem Bleistift. Und vielleicht ist das das Höchste, was Literaturgeschichtsschreibung leisten kann.
dtv, 2025
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