Inmitten einer Gesellschaft, die in Individualität, Selbstentfaltung und Selbstoptimierung schwelgt, macht sich eine stille, aber weit verbreitete Störung breit: die Prokrastination. Was gemeinhin als Aufschieberitis, Disziplinlosigkeit oder Faulheit abgetan wird, ist in Wahrheit mehr: ein kulturelles Symptom einer Gesellschaft, die sich in ihren eigenen Ansprüchen verliert – und sich gleichzeitig davor scheut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Der vielzitierte „Leistungsträger“ wird zur Karikatur, Arbeit zur Zumutung, und Zukunft zur Zumutbarkeit.
Die Erschöpfung einer Überversorgten Gesellschaft
Nie war die individuelle Freiheit größer – nie war die Orientierungslosigkeit zugleich so tief. Prokrastination ist in dieser Welt nicht bloß eine individuelle Schwäche, sondern Ausdruck kollektiver Überforderung. Wenn es keinen klaren Sinn, keine gesellschaftlich geteilten Ziele, keinen verbindlichen Rahmen mehr gibt, dann wird Aufschieben zum kulturellen Reflex. In einer Welt, in der alles möglich scheint, wird jede Entscheidung zur Last.
Gleichzeitig steht unsere Gesellschaft unter massivem Druck: Fachkräftemangel, demografischer Wandel, bröckelnde Infrastrukturen und ein überdehnter Sozialstaat treffen auf eine Bevölkerung, in der immer mehr Menschen sich aus dem produktiven Kern verabschieden – nicht aus bösem Willen, sondern aus Entfremdung, Überforderung und mangelnder Perspektive. Wir sind keine faule Gesellschaft. Wir sind eine erschöpfte Gesellschaft.
„Sich regen bringt Segen“ – ein verlorenes Selbstverständnis
Der Satz klingt heute wie aus der Zeit gefallen. Und doch: Er war einmal ein kulturelles Fundament. Arbeit galt als Beitrag, nicht bloß als Erwerb. Leistung als Würde, nicht als Zwang. Dieses Selbstverständnis ist brüchig geworden – durch eine Kombination aus ökonomischer Unsicherheit, kultureller Entwertung von Arbeit und einem Wertewandel, der das Individuum zum alleinigen Maßstab erklärt. Arbeit wird nicht mehr als sozialer Kitt begriffen, sondern als individuelle Zumutung.
Doch ohne diesen gemeinsamen Rahmen wird Gesellschaft zur Ansammlung von Einzelinteressen. Ohne die Bereitschaft zum Beitrag verliert Solidarität ihre Grundlage. Ohne ein neues Selbstverständnis von Verantwortung und Gemeinsinn wird der Sozialstaat nicht mehr zu halten sein – schlicht, weil die Erzählung fehlt, die ihn trägt.
Wir brauchen jeden – aber nicht im Modus der Selbstoptimierung
Die Antwort auf dieses Dilemma liegt nicht in autoritären Appellen, sondern in der Rückbesinnung auf den Sinn von Arbeit, Verantwortung und Zugehörigkeit. Wir brauchen eine neue Kultur der Teilhabe – eine, die nicht zwischen „Leistungseliten“ und „abgehängter Masse“ unterscheidet, sondern die alle einlädt: die Pflegende, den Handwerker, die Programmiererin, den Auszubildenden. Nicht alle müssen gleich viel leisten – aber alle müssen wissen, warum ihr Beitrag zählt.
Dazu gehört, Prokrastination nicht zu stigmatisieren, sondern zu kontextualisieren. Wer sich zurückzieht, tut das oft nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil er keine Verbindung mehr sieht zwischen dem, was er tut, und dem, was es bringt. Wer sich als überflüssig empfindet, wird sich irgendwann auch so verhalten. Eine Gesellschaft, die jeden braucht, muss also zuerst jedem zeigen, dass er gebraucht wird – wirklich, sichtbar, spürbar.
Schluss
Wir stehen an einer Schwelle. Die Idee vom stetigen Aufstieg, vom ewigen Mehr, trägt nicht mehr. Es wird nicht mehr für alle mehr geben – das ist die unbequeme Wahrheit. Aber das bedeutet nicht, dass es keine Zukunft gibt. Es bedeutet nur: Wir müssen sie gemeinsam neu gestalten. Mit Maß, mit Verantwortung – und mit dem Mut zur Wahrheit.