Wenn ein Kind eines Amtsrichters zur Sprache findet, kann das eine Flucht sein – oder eine Anklage. Johannes R. Becher, geboren am 22. Mai 1891 in München, entschied sich früh für beides. In ihm stritten Autorität und Aufbegehren, Gehorsam und Gestaltungswille. Dass er literarisch früh an Heinrich von Kleist Maß nahm, ist mehr als eine ästhetische Entscheidung – es war eine Seelenverwandtschaft. Wie Kleist suchte Becher den Punkt, an dem Denken und Fühlen in der Sprache explodieren.
1910 unternimmt der junge Becher mit seiner Geliebten Franziska Fuß einen Doppelselbstmordversuch. Sie stirbt, er überlebt schwer verletzt – physisch, psychisch, poetisch. Aus diesem Trauma entsteht 1911 „Der Ringende“, eine hymnische Kleist-Verehrung, in der sich Ekstase, Verzweiflung und Sprachrausch vermengen. Die Hymne war dem verehrten Vorbild Heinrich von Kleist zugedacht, dem Becher im Tod nachzueifern suchte. In ekstatischen Versen schreit sich ein suchendes Ich durch die Welt:
„Wo ist mein Weg?! Da? Dort? Oder da? Oder dort?!“
und wenige Zeilen später die paradox programmatische Erkenntnis:
„Du mußt dich im Feuer verbrennen / Um deine Kraft zu erkennen.“
Frühwerk – das Leben als Druckkammer
Der Doppelselbstmordversuch markiert nicht nur eine biografische, sondern eine poetologische Schwelle. Becher publiziert 1911 den Band „Verfall und Vernunft“, dessen Titel das Spannungsverhältnis benennt, das ihn bis zu seinem Tod begleitet: ein Pendeln zwischen eruptivem Ausdruck und kontrollierter Form. Er beginnt ein Studium in München, Berlin und Jena – Philologie, Philosophie, Medizin –, doch kein Fach kann ihn halten.
Zwischen 1913 und 1918 wird er mehrfach wegen Morphiumsucht in psychiatrischen Kliniken behandelt. Danach verliert sich die medizinische Spur. Was bleibt, ist eine Dichtung, die keine Ruhe kennt. „An Europa“ (1916) wird zum lyrischen Kataklysmus: Becher zertrümmert das Bestehende in der Hoffnung auf Erneuerung. Er sucht den rhythmischen Furor des Wandels – in einer Sprache, die flackert, lodert, bricht.
Der private Becher – Bruchlinien eines öffentlichen Lebens
Bechers Biografie ist eine Chronik unvollendeter Bindungen. 1919 heiratet er Käthe Ollendorf, Tochter eines Sanitätsrats – sie half ihm seine Morpinsucht zu überwinden, trotzdem endetet die Ehe rasch. Eine intensivere Beziehung zu Eva Herrmann, Tochter des amerikanischen Malers Frank Herrmann, wird vom Vater unterbunden. Das wiederkehrende Motiv: die Rückweisung durch Autorität.
In Paris lernt Becher seine spätere Ehefrau Lilly Becher (geb. Korpus) kennen, Journalistin und Genossin. Sie lässt sich 1936 von ihrem ersten Mann, dem Filmemacher Carl Heinz Járosy, scheiden. Bechers Ehe mit ihr ist geprägt von politischer Arbeit, gemeinsamem Exil, literarischer Symbiose – doch nicht frei von innerem Rückzug.
Zudem gibt es Hinweise auf Bechers Bisexualität. Sie wurde nie öffentlich thematisiert, doch in privaten Kreisen anerkannt. Auch hier: ein Spannungsverhältnis, ein inneres Schwanken zwischen Norm und Neigung, ein weiterer Resonanzraum seines poetischen Suchens.
Politik als Versprechen – und Zumutung
Bechers politischer Weg beginnt 1917 mit dem Eintritt in die USPD, führt 1918 zum Spartakusbund und 1919 zur KPD. In „Levisite oder Der einzig gerechte Krieg“ (1926) entwirft er ein literarisches Manifest des Umsturzes. Dafür wird er angeklagt – der Prozess endet erst nach internationalem Druck.
Becher ist Mitbegründer des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, Herausgeber der Linkskurve, Redakteur bei der Roten Fahne. Seine Lyrik verschmilzt revolutionäre Programmatik mit expressionistischer Überwältigung. Doch das Pathos bleibt ambivalent – ebenso wie seine Nähe zur stalinistischen Linie. Brecht kritisiert ihn 1938 in einem Gedicht für seine exilantische Deutschland-Schwärmerei.
Exil, Eisler, Lukács
1933 flieht Becher – über Prag und Paris nach Moskau. 1934 wird ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. In Moskau wird er Chefredakteur der Internationalen Literatur, Mitglied des KPD-Zentralkomitees. In „Der Glücksucher und die sieben Lasten“ (1938) ringt er lyrisch mit dem Exil, der Idee, dem Versagen.
Mit Hanns Eisler schafft er neue politische Lieder – poetisch verdichtet, musikalisch getragen. Die Zusammenarbeit ist produktiv, kein Beiwerk. Georg Lukács bringt ihn zur klassischen Form zurück: das Sonett, die rhetorische Zurücknahme, die innere Strenge. Becher sucht darin die Kontrolle über das Überbordende.
Rückkehr und kultureller Aufbau
1945 kehrt Becher nach Berlin zurück, wird Präsident des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Den Aufbau-Verlag, gegründet vom Kulturbund, prägt er programmatisch mit. 1949 initiiert er Sinn und Form, schreibt den Text zur DDR-Hymne „Auferstanden aus Ruinen“, wird erster Kulturminister (1954–1958), Abgeordneter, Mitgestalter der Akademie der Künste.
In „Verteidigung der Poesie“ (1952) ringt er mit der politischen Funktion des Dichters – ein mutiger Text in einem Land, das den Widerspruch nicht liebt.
Schritt der Jahrhundertmitte – und leiser Abschied
1956 verteidigt er Lukács im Kontext des Ungarnaufstands – eine Loyalität, die ihm politisch schadet. Er verliert Einfluss, bleibt formal im Amt. „Schritt der Jahrhundertmitte“ (1958) ist sein spätes lyrisches Vermächtnis – ernster, klarer, leiser. Der Idealismus ist nicht verschwunden, aber gewandelt.
Am 11. Oktober 1958 stirbt Becher in Ost-Berlin. Seine Bitte, ohne offizielle Ehrung beerdigt zu werden, wird ignoriert. Walter Ulbricht spricht den großen Satz. Johannes Bobrowski bleibt nüchterner: „Der größte tote Dichter bei Lebzeiten.“
Der Ringende
Becher war vieles – und nichts davon eindeutig. Parteigänger mit Gewissen. Funktionär mit Gefühl. Dichter mit Zweifel. Seine Sprache war Suche, Behauptung und Flucht zugleich. Wer ihn liest, begegnet keinem Denkmal, sondern einem Menschen, der mit der Welt rang – und mit sich selbst. Dass er das Politische nie von der Poesie trennte, macht ihn angreifbar. Aber gerade darin liegt seine Größe: im Mut, nicht zu trennen, was zusammengehört.
Levisite oder Der einzig gerechte Krieg (1926) – Antikriegsroman, politisch brisant
Der Glücksucher und die sieben Lasten (1938) – Lyrik aus dem Moskauer Exil Heimkehr (1946) – Gedichte nach der Rückkehr aus dem Exil Verteidigung der Poesie (1952) – Poetologisches Hauptwerk im Spannungsfeld von Kunst und Politik Schritt der Jahrhundertmitte (1958) – Letzter Gedichtband, lyrische Bilanz