Die Suche nach den Gefühlen Seite 4

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Ich wache auf. Du liegst ruhig neben mir. Deine Brust hebt und senkt sich kaum merklich. Ich lege meine Hand darauf, um die Bewegungen zu spüren. Als ich sanft meinen Kopf darauflege, blinzelst du verschlafen. Du seufzt wohlig und legst deine Hand auf mein Haar, streichst es mit leichten Bewegungen glatt. "Es ist schön, dass du da bist", murmelst du. Deine Worte lassen heisse Tränen über meine Wangen laufen. Du streichst sie nicht weg, sie dürfen sein. Als du sie bemerkst, fragst du: "Wieso?" "Ich hasse diese Frage", erwidere ich. Du nickst, doch ich weiss, dass du nie aufhören wirst, sie zu stellen. Ich spüre, wie sich ein Ventil in mir löst und ich kann nicht aufhören, zu weinen. Es tut gut, zu fühlen. Auf deiner Brust schlafe ich ein.

Als ich die Augen aufschlage, ist es still in meinem Kopf. Die fehlende Unruhe ist ungewohnt. Ich setze mich auf und sehe dich drüben bei der Treppe, ein Bein auf die erste Stufe gestellt. Dein Ellenbogen ruht auf deinem Oberschenkel und dein Kopf hast du auf deine Hand gestützt. Du siehst mich herausfordernd an. Wortlos stehe ich auf und komme zu dir herüber. Du nimmst meine Hand und wir beginnen schweigend die Treppen zu erklimmen. Meine Beine werden wackelig und ich spüre, wie die Energie meinen Körper verlässt. Alles in mir schreit "Ich kann das nicht!" Ich spüre deinen prüfenden Blick von der Seite. Ich drehe mich zu dir um. Wir haben aufgehört, die Treppen hinaufzusteigen. "Es tut mir leid", flüstere ich tonlos und lasse deine Hand los. Ich drehe mich um und steige die Stufen hinab. Unten angekommen, kann ich mich nur noch auf den Boden legen und die Augen schliessen. Ich schlafe ein.

Leise Musik weckt mich. Ich stütze mich auf und suche den Raum nach dem Ursprung der Musik ab. Die Klänge sind ungewohnt, denn Musik gab es seit einer Weile nicht mehr. Du sitzt drüben auf der Treppe und liest. Dein Kopf ruht auf deinen Händen, das Buch liegt auf deinen Oberschenkeln vor dir. Du hast noch nicht bemerkt, dass ich wach bin. Ich beobachte dich, wie deine Beine leicht hin und her wippen, du nervös deinen Bart zwirbelst, dich räusperst. Du ziehst die Nase hoch. Die Musik wird lauter. Eine helle, klare Stimme beginnt zu singen. Wohlige Wärme breitet sich in meinem Bauch aus. Überrascht lege ich meine Hand auf meinen Bauch. Die Gefühlsregung irritiert und überrascht mich zugleich. Ich lausche dem Gesang für eine Weile, während ich dir weiterhin beim Lesen zuschaue. Plötzlich hebst du den Kopf. Unsere Blicke kreuzen sich. "Stört dich die Musik beim Lesen?", frage ich. Verwirrung trübt deinen Blick. "Welche Musik? Es ist still hier drin." Verwundert sehe ich mich um. Das Lied verklingt und es ist auch für mich wieder still. Irritiert lege ich mich zurück auf den Boden, mein Bauch weiterhin wohlig warm. Ich lege meine Hand auf den Bauch und schlafe ein.

Als ich das nächste Mal die Augen öffne, spüre ich, wie der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich will raus. "Ich möchte los." Meine Stimme klingt bestimmt und fest. Du sitzt immer noch auf der Treppe. Beim Klang meiner Stimme hebst du den Kopf und lächelst mich aufmunternd an. Du klappst das Buch zu, stehst auf und streckst mir die Hand entgegen. Ich lege meine vorsichtig in deine. Wir schauen uns an. Du hebst deine andere Hand zu meinem Gesicht und fährst sanft mit einem Finger meiner Augenbraue entlang, über meine Schläfe und streichst mein Haar zurück. Dann wenden wir uns zur Treppe und steigen Stufe um Stufe hinauf.



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