"Ich werde schreiben, um mein Volk zu rächen" - Diesen Satz schrieb die diesjährige Gewinnerin des Literaturnobelpreises, Annie Ernaux, im Alter von 22 Jahren in ihr Tagebuch. 60 Jahre später wird genau diese Satz zum Ausgangspunkt ihrer Nobelpreis-"Lecture", die sie am Mittwochabend in den Räumen der Schwedischen Akademie gab. Volk, das meint in diesem Falle Klasse. Eine Klasse, die in jedem Ernaux-Buch mitschwingt, die mit "schönen Sätzen" unmöglich hätte beschrieben werden können, die eine "Sprache der Wut" verlangte.
Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux hat am Mittwochabend ihre Nobelpreis-"Lecture" in Stockholm gegeben. Dreh- Angel- und Ausgangspunkt ihrer Rede war dabei der Satz "J´écrirai pour venger ma race" ("Ich werde schreiben, um mein Volk zu rächen"). Im Grunde, so Ernaux, habe sie nicht lange nach diesen Anfang suchen müssen. Vor gut 60 Jahren hatte sie ihn in ein Notizbuch geschrieben; damals, als sie, die junge Studentin, davon überzeugt war, es genügte Bücher zu schreiben, um soziale Ungerechtigkeit, Klassenunterschiede und ungleiche Verteilung von Privilegien bekämpfen und beseitigen zu können. Ganz gleich wie naiv diese Vorstellung 60 Jahre später anmuten mag, sie war notwendig für die damals 22-Jährige, die immer wieder belächelt und verachtet wurde ob ihrer Manieren, ihres Akzents und ihrer fehlenden Bildung.
Die Unmöglichkeit einer "schönen Sprache"
Ernaux erklärt, wie es zu diesem Satz, der paradigmatisch für all ihre Werke sein wird, kam. Zunächst waren da die Bücher, die ihr die Mutter mit auf den Weg gab. Albert Camus, Miguel de Cervantes. Ihre Mutter, so Ernaux, habe das Lesen stark gefördert, zog Bücher dem Stricken und Nähen vor. Bald habe sie sich in die Romane von Flaubert oder Virginia Woolf hineinprojiziert, verstanden, dass das Schreiben Realität transformieren kann. Dem Nacheifern dieser Sehnsucht nach Transformation standen jedoch bald schon gesellschaftliche Normen und Erwartungen im Weg. Das Leben als Ehefrau, als Mutter, als Hausfrau und Lehrerin. Der in diesen Rollen eingebrannte Verzicht, die auf dem Frauenbild lasteten Pflichten. All das erschwerte die Umsetzung ihrer Ziele, hielt sie davon ab, der nun bereits formulierten Idee, das Volk, die eigene Klasse zu rächen, nachzueifern. Paradoxerweise waren es letztlich jedoch ebenjene gesellschaftlichen Muster und Zwänge, die sie zum Schreiben zurückbrachten. Ihr Schreiben prägten.
Hinzu kamen äußere Faktoren, die die literarischen Ambitionen stärkten. Der Tod des Vaters etwa, ihr Job als Lehrerin für junge Menschen aus ihrem Milieu, die weltweiten Protestbewegungen. Bald bäumte sich ein Verlangen auf, das bis heut auf jedes Ernaux-Buch zutrifft; das Vorhaben, "die inneren und äußeren Gründe zu verstehen, die dazu geführt hatten, dass ich mich von meinem Ursprüngen entfernt hatte."
Um den Fragen des Milieuwechsels, der akademischen Aufstiegsgeschichten - Ernaux war die erste Studierte in der Familie - und dem Stadt-Land-Gefälle sowie den sozialen Unterschieden gerecht zu werden, musste eine Sprache her, die sich nicht an den Sprachen ihrer literarischen Vorbilder orientierte, die keine "schöne Sprache" war. Über sich selbst schreiben, aber möglichst "objektiv", "flach", "emotionslos", "neutral". Eine "Sprache der Wut", die den Riss zwischen bildungsferner Schicht und akademischem Bürgertum immer mit transportiert. Vielleicht liegt in dieser Kargheit der Sprache auch ein Annäherungsversuch an die Sprache der Eltern, die Ernaux plötzlich nicht mehr sprach.
"Wenn das Unaussprechliche ans Licht gebracht wird, ist es politisch"
So vergleicht sie ihr Schicksal mit dem von Migranten, die sich ebenfalls der Sprache ihrer Eltern beraubt sehen. Zu schreiben bedeute unter diesem Gesichtspunkt auch, sich neu zu erfinden. Diese Suche nach einem eigenen Feld, nach einem Spalt zwischen den vorherrschenden Narrativen, begreift Ernaux als einen politischen Akt. Das wird klar, wenn sie sagt: "Wenn das Unaussprechliche ans Licht gebracht wird, ist es politisch." Die politische Arbeit aber, beginnt mit dem Suchen.
Auch die Rede der Nobelpreisträgerin ist, wie sie bereits nach der Entscheidung der Schwedischen Akademie im Oktober angekündigt hatte, eine "engagierte politische". Vom Suchen und ergreifen einer eigenen Sprache geht es zu den Protesten der Frauen im Iran. Immer wieder reflektiert sie über das Dasein der Frau in einer Welt, in der der "Körper der Frau" überwacht, Geflüchtete und wirtschaftliche Schwache ausgegrenzt werden. Auch um diesen Tendenzen entgegenzuwirken brauche es die Literatur, so Ernaux. Denn diese sei ein "Raum der Emanzipation". Inwieweit die Verleihung des Literaturnobelpreises ihre Arbeit beeinflussen werde, könne sie nicht sagen. "Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich noch mehr Lust zum Schreiben habe."
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