Ivan Krastev ist in diesen Tagen sehr gefragt. Warum das so ist, hatte der als Putin-Kenner geltende Politikwissenschaftler am vergangenen Sonntag in der ZDF-Talk-Sendung des Philosophen Richard David Precht unter Beweis gestellt. Putin, so Krastev, fühle sich vom Westen erniedrigt und beleidigt, habe Angst vor einer schrumpfenden Bevölkerung und sei geradezu besessen von der Idee, die westliche Scheinheiligkeit aufzudecken. Ansätze dieser Analyse finden sich bereits in dem Buch "Das Licht, das erlosch", welches Krastev 2019 gemeinsam mit Stephen Holmes veröffentlichte.
Als der Politologe und Politikberater Ivan Krastev am vergangenen Sonntag im ZDF mit dem Philosophen Richard David Precht über eine eventuelle "Zeitenwende" und der "Welt nach dem Kriegsschock" sprach, wurde schnell deutlich, dass sich hier eine Perspektive öffnen, die man in vielen anderen Talk-Sendungen bisher vermisst hat. Was den russischen Präsidenten antreibe, wie der Krieg enden könnte, wollte Precht von dem als Putin-Kenner geltenden Krastev wissen. Der sprach von Putins Besessenheit, die Scheinheiligkeit des Westens aufzudecken. Weitere Motive, so Krastev, seien etwa die Vorstellung, Russland würde vom Westen fortwährend und über Jahre hinweg erniedrigt und beleidigt werden, sowie die Angst Putins vor einer weiter schrumpfenden russischen Bevölkerung.
Böser Osten, böser Westen
Auch über das Spannungsverhältnis zwischen Ost und West - das eine zentrale Rolle im Ukraine-Krieg spielt - weiß Krastev bestens bescheid. 2019 hatte er dazu - gemeinsam mit dem Politik- und Rechtswissenschaftler Stephen Holmes - das vielbeachtete Buch "Das Licht, das erlosch: Eine Abrechnung" veröffentlicht. Drei Jahrzehnte lang, heißt es darin, sei der Osten gezwungen gewesen, den Westen zu imitieren, und versank dabei in Gefühlen der Unzulänglichkeit, Abhängigkeit und des Identitätsverlusts. Dieses moralische Vorbildfunktion des Westens habe inzwischen allerdings seine Glaubwürdigkeit verloren, wodurch ein gefährliches Wertevakuum geschaffen wurde.
Holmes und Krastev zeigen, wie westlich-demokratische Ideale ab 1989 zunehmend an Glanz verloren. Insbesondere in Ostmitteleuropa, so die Politikwissenschaftler, habe man versucht das westliche Modell nachzuahmen. Dieser Nachahmungsversuch habe den nicht ganz glücklichen Nebeneffekt, dass man demjenigen, den man bewundert, immer ähnlicher wird. Im Umkehrschluss bedeute das selbstverständlich auch, sich selbst immer unähnlicher zu werden. Die Folge ist ein Identitätsverlust, der gewissermaßen vom Sog des westlichen Scheinvorbilds in Gang gesetzt wurde, und notwendigerweise zur Selbstzersetzung führt. Die Autoren schreiben:
"Ein Leben als Nachahmer vermengt unweigerlich Gefühle der Unzulänglichkeit, Minderwertigkeit, Abhängigkeit, des Identitätsverlusts und der unfreiwilligen Unaufrichtigkeit. Wir können sagen, dass in Mitteleuropa noch ein besonderes Ärgernis ins Spiel kam, weil die Nachahmer glaubten, zum selben Kulturraum zu gehören wie die Nachgeahmten – und zudem davon ausgingen, dass sie eingeladen waren, der ‚freien Welt‘ auf Augenhöhe mit ihren europäischen Nachbarn beizutreten."
Russland und der Westen
Entfremdung und Demütigung seien ausschlaggebende Faktoren für den immer akuter auftretenden Antiliberalismus, so Holmes und Krastev. In Russland sahen die Autoren 2019 einen Akteur, der 20 Jahre lang Demokratie gespielt und vorgetäuscht habe, bevor Putin mit der Besetzung der Krim dann einen offenen Konfrontationskurs fuhr. Was Ivan Krastev am vergangenen Sonntag in der "Precht"-Sendung als Motive Putins nannte, klingt bereits in seinem Buch deutlich an:
"Das Hauptziel der heutigen Außenpolitik des Kreml besteht darin, den angeblichen Universalismus des Westens als Deckmantel zu entlarven, unter dem sehr spezielle geopolitische Interessen zum Vorschein kommen. Sarkastische Nachahmung ist die effektivste Waffe in dieser Kampagne. Wie Amerikaner und Europäer den Zerfall der Sowjetunion feierten, so feiern Russen nun den Brexit und den möglichen Zerfall der EU."
"Das Licht, das erlosch" ist insofern eine "Abrechnung", als die Autoren deutlich machen, wie stark der Westen den antiliberalen, populistischen und nationalistischen Lagern Vorschub geleistet hat. Es war die dem Westen eigene Bigotterie, der wiederholte Bruch mit selbst gesetzten Idealen und die Doppelzüngigkeit, mit der man moralistisch Urteile sprach, die den Feinden Tür und Tore geöffnet haben.
Ivan Krastev und Stephen Holmes: „Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung“; Ullstein, 2019, 366 Seiten, 26 Euro.
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