In der kommenden Ausgabe "ttt - titel, thesen, temperamente" (08.05.2022) geht es unter anderem um den neuen Roman der Schriftsteller Sibylle Berg. Auch in "RCE #RemoteCodeExecution" wirft Berg einen Blick auf den dystopisch getrübten Neoliberalismus von morgen. Eine meritokratische Welt, in der Menschen genau so viel Wert sind, wie sie Nutzen abwerfen. Danach dürfen sie abtreten. Unbrauchbar. Ebenso Düster wie ihr grandioser Bestseller "GRM Brainfuck".
Wie bereits in ihrem letzten Buch, dem Bestseller "GRM Brainfuck", stellt uns Sibylle Berg auch in ihrem neuen Roman "RCE" eine Gruppe von Außenseitern vor, die versucht sind, eine düster absurde Welt zu retten. Dabei haben wir es im Grunde weniger mit einer Dystopie als mit einer logisch weitergedachten Gegenwart zu tun, in der Menschen also nur etwas wert sind, wenn sie Nutzen tragen. Sind sie wertlos, ist die Gesellschaft dankbar, wenn sie freiwillig abtreten. Um diesen Vorgang zu erleichtern, hat man sargförmige, wiederverwendbare Suizidkisten entworfen, die wie transportable Gaskammern verwendet werden. Nachdem die Wertlosen verstorben sind, wird die Kiste desinfiziert und für einen nächsten Suizid vorbereitet.
Die Dystopie ist weniger als das Morgen
Diese Welt von morgen wird ausschließlich von großen Techkonzernen regiert, die nahezu vollständige Kontrolle und Entscheidungshoheit genießen. Die nach Einkauf und Material dürstenden Individuen, mehr User als Mensch, werden vollständig überwacht und gesteuert. Auch Banken, Politiker, Länder befinden sich in den Händen der wenigen Reichen. Zwar gibt es noch Staatsoberhäupter an den Spitzen der Länder, diese jedoch sind nicht viel mehr als leere, mit Worthülsen ausgestattete Hüllen.
Sibylle Berg betont mit Recht, dass es sich bei ihren Romanen lediglich um eine ein wenig in die Zukunft gedrehte Gegenwart handelt. In ihrem Roman benennt sie reale Personen, Software, Hackerstrategien, Techmillionäre. Das sei eben nicht nur ausgedacht. Der Kapitalismus, "das beste aller Systeme", sei bereits an sein logisches Endziel gekommen. Sehr wenige sehr Reiche, sehr viele sehr Arme. Und während sich die Reichen die etwas weniger Reichen kaufen, um noch reicher zu werden, müssen sich Menschen, die sich keine gute Nahrung leisten können, in Schlafboxen zusammenpferchen. Ohne Krankenversicherung, ohne Auto, ohne Reisen, ohne Kinderkriegen. Vor diesem Leben flüchtet man derzeit häufig in den Drogenkonsum. In Bergs Roman, die logische Weiterdrehung, wird aus den Drogen die Suizidkiste.
In einem Interview verwies Berg darauf, dass wir längst um all die Furchtbarkeiten wissen, aber dennoch alles irgendwie ganz okay finden, ja beeindruckt sind von dieser verwüsteten und aberwitzigen Welt. "Was ist", fragt sie, "mit diesen ganzen Panama, Pandora, Blue Papers – what the fuck – und was passiert mit diesen ganz kleinen Randnotizen, die wir jeden Tag lesen – die unser überfordertes, fragmentiertes Gehirn gar nicht mehr verdauen kann?"
"ttt" hat die Schriftstellerin an einem Seeufer im Tessin getroffen, wo auch eine Großteil ihres Romans spielt.
Weitere Themen der kommenden Ausgabe "ttt - titel, thesen, temperamente"
Die Rückkehr des Faschismus: Paul Mason überdies neuen Formen eines alten Schreckens
Schlager statt Protestsongs: Über das politische Leben des Roland Kaiser
Heavy Metal Gottesdienst: Die Band Ghost und ihr neues Album "Impera"
"ttt" Ausstrahlung
Am Sonntag den 8. Mai 2022, um 23:20 Uhr im hessischen Rundfunk. Oder am Sendetag ab 20.00 Uhr in der ARD Mediathek
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PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
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Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich
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