Annalena Baerbocks "Jetzt. Wie wir unser Land verändern" ist das wohl meist besprochene Buch der letzten Wochen. Nachdem zunächst der österreichische Plagiatsjäger Stefan Weber auf abgeschriebene Stellen hingewiesen hatte, meldete sich nun auch sein Kollege Martin Heidingsfelder zu Wort. Die Aggression, mit der die Medien hierzulande gegen die grüne Kanzlerkandidatin vorgehen, zeigt auch, wie sehr sich die Deutschen vor Veränderungen fürchten. Doch die werden kommen müssen, mit oder ohne die Grünen.
Die heftigen Angriffe auf Annalena Baerbocks Buch "Jetzt. Wie wir unser Land verändern" zeigen, wie sehr man hierzulande vor dem vermeidlich "linksgrüner Ökofaschissmus" - so nennt man in Deutschland die zur Sicherung einer enkeltauglichen Zukunft notwendigen Restriktionen - zittert. Selbstverständlich wird dieses Zittern auch im zweihundertsten Artikel zum Thema "Baerbock, Plagiat!" nicht als Ursprung der Entrüstung lokalisiert. Von einem Angriff auf die grüne Kanzlerkandidatin war selten die Rede, stattdessen spricht man nun von einem Frontalangriff der Grünen gegen die "taz" (BILD), die erst gestern "Es ist vorbei, Baerbock!" titelte und vorschlug, die Kanzlerkandidatur schnellstmöglich an Robert Habeck abzugeben.
Die Strategie der Schulhofschläger
Sicher, abgeschriebene Passagen sind kein Kavaliersdelikt. Interessanter wäre es jedoch, über die "Copy and Paste"-Mentalität in der deutschen Politik nachzudenken, über die offensichtlich nach wie vor weit verbreitete Annahme, wir könnten Methoden und Bewältigungsstrategien, die im 20. Jahrhundert wunderbar funktionierten, ohne Weiteres auf das 21. Jahrhundert anwenden. Der Social-Media-Krieg gegen Annalena Baerbock ist ein Ablenkungskrieg, ein schulhofschlägerartiges In-Die-Ecke-Drängen. Ein Schlagen, um die selbst erfahrenen Schläge zu vergessen. Da man keine Lösungen parat hat, drängt es einen, um dieses Vakuum zu füllen, zur erstbesten Handlung.
Sollten wir den eigensinnigen Schulhofschlägern, durch deren Atemwege (noch immer) die German Angst strömt, ihre kurzen Freuden lassen? Klar ist, dass Angriffe dieser Art weder die politischen, noch die ökonomischen und erst recht nicht die ökologischen Fragen lösen, die unaufhaltsam auf uns zukommen, sich schon jetzt stellen und durch jene Debatten meisterhaft an den Rand geschoben werden. Diese Fragen verschwinden leider nicht mit Annalena Baerbock. Sie verschwinden auch nicht mit den Grünen. Sie verschwinden auch nicht mit den Fridays for Future.
Wie werden wir auf uns schauen?
Schlussendlich wird es vollkommen gleichgültig gewesen sein, wer wann beim wem abgeschrieben hat. Auch wer gegen die Grünen wetterte und laut "Ökodiktatur" ausrief. Alles egal und vergessen, in Anbetracht der dann tatsächlich eingeführten Restriktionen, die man hatte einführen müssen, da 99% der WissenschaftlerInnen ganz zufällig recht hatten.
Mit einer seltsamen Mischung aus Entrüstung und Begeisterung wird man auf diese zwanziger Jahre blicken, und dabei ein gesellschaftliches Schauspiel der unausgesetzten Selbstzerfleischung beobachten können. Und vielleicht wird Annalena Baerbocks Buch "Jetzt. Wie wir unser Land verändern" dann, in 20 oder 30 Jahren, ein zentrales Werk unserer Zeit sein. Nicht aufgrund des Inhalten, sondern aufgrund des Umganges mit diesen. Beispielhaft wird man anhand dieser Debatte die letzten Zuckungen einer untergehenden Gesellschaftsform ablesen können. Wir trieben uns in die Ecke und verstanden uns selbst nicht. Unsere Privilegien bedeuteten Stillstand. Fantasie- und nutzlos suchten wir uns die letzten Feinde, ohne uns vorstellen zu können, dass es nach uns weitergehen wird.
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