Am 21. August erscheint Grey auf Deutsch. Wir haben das Flagellanten-Bändchen bereits im englischen Original gelesen.
Hier bestellen
"50 Shades of Grey" ist ein Phänomen: Selten wurde ein Buch, das sich millionenfach verkauft, mit einem derartigen Genuss von der Kritik verrissen. Doch bereits der Verriss ist ein Sinnbild für E. L. James´ Erfolg, deren Werk es ohne diesen Verkaufserfolg niemals unter die Leselämpchen der Literaturpäpste geschafft hätte.
Nach drei Folgen an Sado-Maso-Spielchen, über die echte Kenner der Szene nur müde lächeln dürften, wirft E. L. James mit "Grey" einen Roman hinterher, der natürlich schon Wochen vor dem deutschen Erscheinungstermin am 21. August auf Platz 1 der Amazon-Vorbestellercharts liegt. Die New York Times hat ihre Rezension bereits mit einer Beileidsbekundung an die 1,1 Millionen Fans eröffnet, die "Grey" in den ersten drei Tagen in den USA gekauft haben.
Das hat Gründe. Die Autorin unternimmt nämlich den gewagten Versuch, die Geschehnisse des ersten Bandes aus der Sicht von Christian Grey zu schildern. Gewagt deswegen, weil E. L. James bereits bei "50 Shades of Grey" mit häufigen Wort- und Handlungswiederholungen selbst aus der eigenen Geschlechtsperspektive heraus schnell an die Grenzen ihrer Phantasie gestoßen ist. Verständlich aber deswegen, weil bereits zahlreiche Blogger die Story von "50 Shades of Grey" auf eigene Faust weiterführen und E. L. James als Urheberin selbst vom Hype profitieren will - selbst bei geringerem handwerklichen Können als viele der Internet-Autoren.
Die Story ist grundsätzlich bekannt: Studentin Anastasia Steele springt für eine erkrankte Kommilitonin ein und übernimmt für die Studentenzeitung ein Interview mit dem Selfmademan Christian Grey. Der smarte Millionär lullt Anastasia ein, entpuppt sich aber als Sado-Maso-Fetischist und führt Anastasia in die Welt des - noch recht zarten - Foltersex ein. Dennoch ahnt Anastasia, dass Christian Grey trotz seines Reichtums und seiner sexuellen Obsessionen eine verlorene Seele ist, die es zu retten gilt.
E. L. James verspricht nun einen Einblick in die Gefühlswelt von Christian Grey. Der leidet unter Flashbacks und Visionen seiner cracksüchtigen Mutter und der damit verbundenen schlimmen Kindheit. Dass er im Umkehrschluss nun zu Peitsche und Reitgerte greift, leuchtet zwar nicht ein, aber mit dem Kindheits-Traumata liefert die Autorin zumindest irgendwelche Passagen, die in "50 Shades of Grey" noch nicht vorkamen.
Ansonsten denkt Christian Grey meistens "Verdammt!", gefolgt von "Reiß dich zusammen, Grey!". Beide Sätze fallen in der Regel in unmittelbarer Nähe von Anastasia, wenn der finster gesinnte Galan nicht gerade im Geiste der Schönen gegenüber unausgesprochen bleibende Unartigkeiten formuliert.
Wie auch schon beim handwerklich ungelenk formulierten "50 Shades of Grey" haut E. L. James auch bei "Grey" die eine oder andere Stilblüte raus, insbesondere wenn Christians Penis ins Spiel kommt. Und der regt sich beim Anblick der zu Unterwerfenden mit an einer an ein Eigenleben grenzenden Permanenz.
Man darf gespannt sein, wie der Übersetzer denkwürdige Sätze wie "My cock agrees" ins Deutsche überträgt, ohne zu lachen. Die Autorin meint dies tatsächlich ernst: "Mein Schwanz stimmt zu und versteift sich zur Begrüßung." Und: "Mein Schwanz regt sich in Zustimmung." Oder auch: "Ihre Worte wanderten direkt in meinen Schwanz." Das lässt tief blicken, wie sich E. L. James das erotische Erleben eines Mannes vorstellt.
Fazit: Natürlich war es für Kritiker ein besonderes Vergnügen, schon "50 Shades of Grey" zu verreißen; und aus rein handwerklichen Gründen hatten sie auch recht. Dennoch hat die Flagellanten-Story ganz offensichtlich insbesondere für viele Leserinnen einen so starken Reiz, dass sie über die offensichtlichen Schwächen selbst in der Formulierung hinwegsahen. Immerhin: Über "Grey" hat offenbar ein Lektor mit Befugnissen drüber geschaut, wenn er auch nicht alle Stilblüten, Peinlichkeiten und Fremdschäm-Anlässe entfernt hat. Das Manko für Shades-Fans ist, dass das Buch einfach zu wenig Neues bietet. Die Autorin ist rationell vorgegangen und hat ganze Dialog-Passagen 1:1 übernommen. Die innere Welt von Christian Grey ist mit Flashbacks zur schlimmen Kindheit, Zwiegesprächen mit seinem Gehänge und einer allgemeinen Unsicherheit geprägt, die aber alle für sich im Raum stehen und nicht in einen die sexuelle Manie erklärenden Kontext gebracht werden.
Für wen eignet sich´s? Wer "50 Shades of Grey" nicht mochte oder sich bestenfalls darüber amüsiert hat, wird natürlich mit "Grey" nicht glücklich. Aber die Fans werden eigentlich auch nicht ausreichend bedient: "Grey" ist wenig mehr als ein Merchandise-Artikel; eine aufgepeppte Variante des Originals ohne echte inhaltliche Neuerungen. Wer derartige Geschichten mag, wird mit der "After"-Serie aktuell besser bedient.
Hier bestellen
Topnews
Ein Geburtstagskind im November: Astrid Lindgren
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jahresbestseller 2015: Sex-Buch "Grey" ist Nr. 1 in Deutschland
Ein Männerroman für alle um die 30
Eine Fortsetzung für Fans
Die Axt im Haus erspart das Schreckgespenst
Die Hexen in der Nachbarschaft
Supergirl Salander
Stieg Larsson vs. David Lagercrantz: Wer ist besser?
Süß wie ein Sahne-Bonbon
McGyver auf dem Mars
Bauer sucht Beckett
Bummelzug ins Beziehungsdrama
Kopfkino in Technicolor
Ist das Kunst oder kann das auf den Friedhof?
Murakami ist müde
Das Beste kommt zum Schluss
Aktuelles
Pettersson kriegt Weihnachtsbesuch von Sven Nordqvist
Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte
Pia Homburger: Poesie
Lili Körbers Abschied von Gestern
Die vergessene Moderne – Hermynia Zur Mühlen und die Kunst des Widerspruchs
Das Literarische Quartett am 5. Dezember 2025
Das gute Übel. Samanta Schweblins Erzählband als Zustand der Schwebe
Zwischen den Bildern – Margaret Atwoods „Book of Lives“
Abdulrazak Gurnahs : Diebstahl
Pia Homberger: Das Universum
Biss zum Abendrot von Stephenie Meyer – Heiratsantrag, Vampirarmee, Gewitter über Forks
Gregs Tagebuch 20 – Bock auf Party?
Salman Rushdie: Die elfte Stunde
Biss zur Mittagsstunde von Stephenie Meyer – Wenn Liebe schweigt und Wölfe sprechen
Zwischen Licht und Leere. Eli Sharabis „491 Tage“ – ein Zeugnis des Überlebens
Rezensionen
Biss zum Morgengrauen von Stephenie Meyer – Erste Liebe im Dauerregen: Warum dieser Vampirroman bis heute wirkt
Crushing von Genevieve Novak – Millennial-Herz, Dating-Chaos, Humor als Selbstschutz
Maybe in Another Life von Taylor Jenkins Reid – Eine einzige Entscheidung, zwei Lebensläufe
„Die Leber wächst mit ihren Aufgaben – Komisches aus der Medizin“ von Eckart von Hirschhausen
Der große Sommer von Ewald Arenz– Ein Sommer, der vom Schwimmbad aus die Welt erklärt
Paradise Garden von Elena Fischer– Sommer, Nudeln mit Ketchup und der Moment, der alles teilt
Gespenster denken nicht – Shakespeares Hamlet als Gedankenreise durch ein zersetztes Drama
Qwert von Walter Moers – Ritterrüstung, Dimensionsloch, Herzklopfen
The Gingerbread Bakery von Laurie Gilmore – Zimt in der Luft, Funkstille im Herzen
Darm mit Charme von Giulia Enders – Ein Sachbuch, das den Bauch rehabilitiert
Wenn die Sonne untergeht von Florian Illies– Ein Sommer, der eine Familie und eine Epoche auf Kante näht
Apfelstrudel-Alibi (Rita Falk)– Eberhofer ermittelt zwischen Südtirol, Schnodder und Susi im Bürgermeisteramt