Zwei Listen, zwei Realitäten: Was Bestseller über das Lesen erzählen

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Ein älterer Mann steht vor einem Buchregal. Die Hand zögert, der Blick wandert. Rechts das neue Buch von Fitzek, links Walter Moers. In der Mitte ein Kinderbuch, das sein Enkel kennt. Der Mann lacht leise, nimmt den Thriller. Die Verkäuferin lächelt. „Geht gut, das Buch.“ Sie meint: verkauft sich.

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Zwei Bestsellerlisten prägen den Dezember 2025: die von Amazon, digital, flüchtig, impulsgesteuert – und die des SPIEGEL, gewichtet, langsam, umfassend. Beide zeigen: Es wird gelesen. Doch was genau? Und was bedeutet das für die Literatur – als Kunst, als Markt, als Gedächtnisform?

Zwischen Bildschirm und Buchhandlung

Die Amazon-Liste beginnt mit einem Geräusch: Türenfallen. In Der Nachbar von Sebastian Fitzek wird die Angst vor dem Alleinsein zum Thriller. Es folgen: Gregs Tagebuch 20, Asterix 41, Stonehenge,Apfelstrudel-Alibi. Zwischen Serienlogik und Eskapismus scheint das Erzählen hier nicht zu fragen, sondern zu liefern. Der Roman als Serie, das Buch als Event. Auf Amazon herrscht Gegenwartsnähe – nicht im Thema, sondern im Modus. Geklickt wird, was bekannt ist. Und was sich leicht verschenken lässt.

Die SPIEGEL-Liste dagegen erzählt von einem Buchmarkt, der auch Erinnerung speichert. Hier steht Fitzek ebenfalls vorn, aber in Gesellschaft vonSchirach, Moers, Abel, Elmiger. Die Mischung ist weniger bunt, aber feiner gesetzt. Zwischen Krimi und Charakterstudie, Abenteuer und Sprachversuch spiegelt sich ein Markt, der auch das Suchende kennt.

Die Topografie des Erzählens

Auffällig: Beide Listen lieben das Wiedererkennbare. Serien, Fortsetzungen, bekannte Stimmen. Das Neue kommt in Varianten, nicht in Brüchen. Freida McFaddens Der Freund – ein solider Spannungsroman – steht bei Amazon auf Platz drei. Beim SPIEGEL fehlt er. Umgekehrt taucht Dorothee Elmiger dort auf, bei Amazon nicht. Der Markt kennt Filterblasen, auch im Lesen.

Und doch: Die Diskrepanz ist weniger ein ästhetischer Graben als eine rhythmische Verschiebung. Amazon liest schneller, unmittelbarer. SPIEGEL liest langsamer, aber nachhaltiger. Beide Listen sind Indikatoren – nicht für Qualität, sondern für Reichweite. Manchmal überschneiden sie sich. Dann wird es spannend. Denn dort beginnt der Kanon der Gegenwart.

Leselust als Stimmungsbild

Was aber sagt es über eine Gesellschaft, wenn ihre meistverkauften Bücher von Nachbarn, Fastenmethoden und toten Römern handeln? Vielleicht dies: Dass Literatur heute vor allem das leisten soll, was Alltag und Politik kaum mehr bieten – Struktur, Übersicht, Wiedererkennbarkeit. Ein Buch wie Stonehenge (Follett) erzählt Geschichte nicht, es sortiert sie. Asterix kämpft, Greg meckert, Apfelstrudel wird serviert. Und über allem schwebt die stille Ahnung, dass Ordnung wenigstens auf Papier möglich ist.

Doch auch das andere existiert. In Unser Tag ist heute (Grimaldi) bricht ein Alltagsroman auf in Trauer und Trost. In Moers’ Qwert(SPIEGEL-Liste) wird Sprache selbst zum Abenteuer. Und in Der stille Freund (Schirach) geht es nicht um das, was passiert – sondern um das, was gesagt wird. Oder nicht gesagt werden kann.

Und das Gedächtnis?

Die Bestseller von 2025 sind auch ein Gedächtnisspiegel. Was erinnert wird, verkauft sich. Was sich verkauft, wird erinnert. In dieser doppelten Spirale wirken Listen wie literarische Seismografen. Nicht tief, aber empfindlich. Sie zeigen Stimmungen, keine Strukturen. Doch gerade deshalb sind sie lesenswert.

Denn wer wissen will, was Gesellschaft bewegt, muss lesen, was verkauft wird. Nicht um es zu feiern. Sondern um zu verstehen, was fehlt.


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