Ein Pfad schiebt sich steil durch Fichten und Nebel, vom ersten Satz an. Die kalte Luft drückt schwer, wenn Marie in der Rauhnacht 1940 keucht, gebiert und zugleich eine Ahnung davon bekommt, was sie da eigentlich in ihren Armen hält. Dieses erste Bild – ein Berg, ein Schmerz, ein Kind – ist keine bloße Szene, es ist ein Resonanzkörper. In ihm schwingt das Unwirtliche der Landschaft, die Härte der Zeit und der leise, unentrinnbare Grundton der Gabe, die Anna in sich trägt. Wintertöchter. Die Gabe beginnt nicht einfach, es setzt sich fest.
Die Forstau ist ein Ort, der in seinen Topographien zugleich real und mythisch bleibt. Die Berge sind nicht nur Kulisse. Sie sind Machtverhältnisse, sie drücken, formen und reflektieren. Die Dorfbewohner leben dort nicht „in“ einer Landschaft, sie sind von ihr umstellt, so wie Sprache und Geschichte die Figuren umstellen. Und gerade in dieser Umstellung erklingt die erzählerische Stimme der Autorin mit einer Klarheit, die dem Leser wenig Raum für Distanz lässt.
Dass Natur hier nicht nur Beschreibung, sondern Erzählfläche ist, zeigt sich in epischer Ausgestaltung: Wetter, Berge, Jahreszeiten – alles ist plastisch, beinahe übergenau, was nicht jedem Leser gefallen wird. Wer sich für die dichte Atmosphäre öffnet, wird reich beschenkt; wer auf Handlung drängt, könnte das Übermaß als Kulisse empfinden, die sich bisweilen wie ein Heimatfilm der 50er Jahre anfühlt.
Drei Frauen – drei Achsen des Blicks
Im Zentrum stehen drei Frauen: Barbara, die selbstbewusste Hebamme; Marie, deren Schwermut und Leid sich wie ein Schatten in jeden Satz legt; und Anna, das Kind, dessen Gabe zugleich Segen und Fluch ist. Diese drei Achsen des Blicks erzeugen eine Komplexität, die über einfache Familiensaga hinausgeht. Marie gebiert nicht nur ein Kind, sie gebiert zugleich die Erzählung selbst. Barbara ist mehr als nur Helferin der Gebärenden; sie ist Wissende, Grenzgängerin zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen. Und Anna, die vom ersten Atemzug an mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit gezeichnet ist, fungiert als Schnittstelle zwischen den Generationen, zwischen dem Gewordenen und dem Möglichkeitsfeld.
Was Kleinbek gelingt, ist die Lebendigkeit der Figuren: Leser berichten, wie die Charaktere – Marie, Anna, Helena, Roman und andere – im Kopf ein Eigenleben entwickelten, greifbar wurden, als könnte man mit ihnen sprechen. Diese Form innerer Plastizität ist keine Selbstverständlichkeit; sie entsteht, wenn Sprache mehr ist als Mittel, nämlich Resonanzraum.
Die Gabe – als Parabel, als Macht
Was aber ist diese Gabe? Im Roman fungiert sie als Motiv und Narrationsmotor zugleich: Anna und Barbara können durch Schmecken die Geschichte von Dingen „sehen“. Dieses synästhetische Vermögen ist nicht einfach magische Auszeichnung, sondern ein erzählerisches Mittel, um über Erinnerung, Besitz, Identität und Tradition nachzudenken. Die Gabe erlaubt nicht nur Zugang zur Vergangenheit, sie stellt die Frage, wie Geschichte in Körpern und Dingen weiterlebt.
Eine Leserin beschreibt die Gabe als Parabel – ein Deutungsangebot, das die Geschichte nicht ins Fantastische entrückt, sondern sie symbolisch erdet. Die Gabe wird so zu einer Linse für das, was zwischen den Generationen weiterwirkt: Trauma, Wissen, Verlust, Kraft.
Sprache als Landschaft – und als Kompromiss
Die österreichisch geprägten Begriffe und die einfache, klare Syntax sind nicht folkloristische Färbung. Sie sind strukturelle Elemente des Textes. Die Sprache ist wie der Bergboden: teils hart, teils offen für überraschende Nährschichten. In ihr spiegelt sich die Dialektik zwischen dem Alltäglichen und dem Unerwarteten. Doch gerade hier liegt auch ein Reibungspunkt: Natur und Leben sandsorgsam beschreiben und entfalten sich so allerdings vermisst man beim Lesen schon sehr den Dialekt. Was in der Schweiz literarisch längst Praxis ist – das Einflechten und Übersetzen von Regionalität – scheint hier gescheut.
Perspektivwechsel und Textarchitektur
Ein weiterer erzählerischer Erfolg des Romans liegt im Perspektivwechsel: Die reife Anna kommentiert aus einer späteren Zeit den Fortgang der Dinge. Diese Meta‑Ebene ist nicht nur ein erzählerisches Additiv, sie setzt die Ereignisse in Relation zur Erinnerung, zur retrospektiven Selbstwahrnehmung. Durch diesen doppelten Blick – die junge Anna in der Handlung, die alte Anna im Rückblick – entsteht ein steter Schub der Spannung, ein Vor‑ und Zurückgleiten, das den Text vorantreibt, ohne ihn je zu hetzen.
Diese Struktur verstärkt zugleich die Erfahrung des Lesers, der nicht nur Zeuge eines Weges ist, sondern aktiv an der Deutung dessen teilnehmen muss, was geschieht. Es ist ein Erzählen, das nicht nur über Figuren spricht, sondern über die Bedingungen des Sprechens selbst.
Ethnographien des Alltagswissens
Ein ungewöhnlicher, aber ungemein bereichernder Aspekt des Romans sind die Erklärungen zu Kräutern, alten Hausmitteln und homöopathischen Arzneien. Diese Einschübe – akribisch recherchiert – fungieren nicht als nostalgisches Kuriosum, sondern als epistemologische Erweiterung des Textes: Sie zeigen, wie Wissen in sozialen Feldern weitergegeben wird, wie es tradierte Praktiken sind, die Leben strukturieren und Bedeutung stiften. Dieses ethnographische Gefüge trägt zur Dichte der Welt bei – ein Angebot, das viele Leser als besonders eindrücklich empfinden.
Ein Sog – mit kalkulierten Brüchen
Wintertöchter. Die Gabe erzeugt eine Erzählbewegung, die als „Sog“ beschrieben wird – doch nicht jeder ließ sich restlos mitreißen. Die Handlung sei oft vorhersehbar, die Dramatik an einigen Stellen kalkuliert, so der Tenor kritischer Stimmen. Und doch: Selbst wer die Geschichte nicht als überraschend empfand, erlebte sie als Gewinn. Als ruhige, bereichernde Lektüre – für manche sogar als Trostbuch in Corona-Zeiten.
Der Roman schließt offen – aber nicht leer. Die letzten Seiten lassen Trauer zurück, dass diese Welt nun endet. Und damit auch die Figuren, mit denen man zu sprechen glaubte.
Über die Autorin: Mignon Kleinbek
Mignon Kleinbek ist gelernte Erzieherin und Autorin der Wintertöchter-Trilogie, ihrer ersten literarischen Veröffentlichung nach zwei erfolgreichen medizinischen Ratgebern über ihr Leben mit einer rheumatischen Erkrankung. Ihr Schreiben ist geprägt von persönlicher Erfahrung, Naturverbundenheit und psychologischer Feinfühligkeit. Figuren und Landschaften gestaltet sie mit genauer Beobachtung, ihre Sprache bleibt klar und zugänglich. Kleinbek lebt zurückgezogen, schreibt im Einklang mit der Natur – und erzählt Geschichten, in denen weibliche Lebenswege, Erinnerung und Umgebung auf vielschichtige Weise zusammenwirken.
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