Es beginnt mit einem Bild. Ein junger Mann, reglos im Straßencafé, die Zigarette zwischen den Fingern, der Blick: abwesend. Der Boulevard rauscht, Paris vibriert. Doch in ihm – Stille. In dieser Figur, irgendwo zwischen Bohème und Heimatlosigkeit, könnte man den Erzähler aus Getäuscht erkennen. Oder seinen Autor. Der eine schreibt über eine Liebe, die nie war. Der andere schreibt, als hinge sein Leben daran.
Juri Felsen – geboren 1894 als Nikolai Freudenstein, ermordet 1943 in Auschwitz – war ein russischer Jude im Pariser Exil. Sein Roman Getäuscht erschien 1930 in einem russischen Exilverlag und fand in Vladimir Nabokov einen frühen Fürsprecher. Danach geriet er in Vergessenheit. Nun, fast ein Jahrhundert später, liegt das Werk erstmals auf Deutsch vor – in der präzisen, eleganten Übersetzung von Rosemarie Tietze. Was wir lesen, ist kein Liebesroman, sondern ein literarisches Psychogramm – geschrieben mit seismografischem Blick für innere Beben.
Paris, Ljolja, Ich: Drei Koordinaten
Wir treffen unseren Erzähler im Paris der 1920er Jahre. Er ist Emigrant, entwurzelt von Revolution, Verlust und Vergangenheit, geplagt von Geldsorgen und Selbstzweifeln. Ein Brief aus Berlin kündigt Besuch an: Ljolja, die Nichte einer Freundin, ebenfalls aus Russland geflohen. Der Erzähler kennt sie nicht, hat ein Foto gesehen – das genügt. Noch bevor sie eintrifft, beginnt er, sie zur Projektionsfläche zu formen.
Als sie auf dem Bahnsteig erscheint, „am Hermelinkragen und blauen Mantel“ erkennbar, nimmt die Obsession ihren Lauf. Ljolja ist schön, klug, gesellig, Anfang dreißig, mit einer gescheiterten Ehe und einer komplizierten Liebesvergangenheit. Sie bleibt ambivalent: mal nah, mal unberührbar, oft charmant, manchmal kühl. Ihre Signale sind uneindeutig – oder nur in den Augen des Erzählers uneindeutig genug, um sie misszuverstehen.
Was als Freundschaft beginnt, verwandelt sich in ein einseitiges Begehren, das sich selbst zum Zentrum erklärt. Ljolja lebt weiter, scheinbar unbeeindruckt von Konventionen, Geschichte oder Erwartungen. Der Erzähler dagegen driftet ab – in eine Sprache, die nicht mehr beschreibt, sondern seziert.
Innenleben als Handlung
Der Roman ist als Tagebuch geschrieben – datiert, beobachtend, retrospektiv. Es gibt keine äußere Dramaturgie, nur das allmähliche Zerfallen einer Illusion. Der Erzähler verfolgt Ljoljas Verhalten mit obsessivem Blick, beschreibt jede Geste, jedes Schweigen, jede Nuance. Was Ljolja tatsächlich denkt, bleibt unklar. Der Text verschiebt die Aufmerksamkeit: weg vom Du, hin zum Ich.
Und als Ljolja schließlich Paris verlässt – auf Wunsch eines früheren Liebhabers –, bleibt der Erzähler allein mit seinen Notizen. Je mehr sich die Realität entfernt, desto nervöser, fiebriger werden seine Einträge. Der Liebesmonolog gerinnt zur Sprachstörung.
Sprache als Widerstand
Getäuscht ist kein leicht zu lesender Roman. Die Sprache ist barock, verschachtelt, voller Abschweifungen und parenthetischer Umwege. Was zunächst wie Manier wirkt, entpuppt sich als Schutzmechanismus: Schreiben nicht als Mitteilung, sondern als Rückzug. Der Stil wird zur Rüstung – gegen das Vergessen, gegen das Begehren, gegen die eigene Ohnmacht.
Dass Felsen journalistisch anders schreiben konnte – klar, elegant, analytisch –, macht diesen literarischen Ton umso bemerkenswerter. Die Prosa von Getäuscht verweigert sich der Glätte. Sie verlangt Mitgehen. Oder Rückzug.
Täuschung als Struktur
Der Titel des Romans wirkt wie eine Diagnose: Getäuscht. Aber wer täuscht wen? Ist es die Frau, die ihre Nähe nur andeutet? Oder der Mann, der in jeder Geste Bestätigung sucht? Felsen gibt darauf keine Antwort. Er zeigt, dass Täuschung nicht Betrug meint, sondern Struktur ist. Dass das Begehren sich nicht auf das Gegenüber richtet, sondern auf das eigene Bedürfnis, gesehen zu werden.
Loljа ist kein Gegenstand der Begierde – sie ist Fläche, auf der sich die Sehnsucht des Ich-Erzählers abbildet. Sie entzieht sich, nicht weil sie grausam ist, sondern weil sie nicht das ist, was der Erzähler in ihr sieht. Die wahre Täuschung liegt in der Konstruktion des Selbst.
Machtverhältnisse und Geschlechterfiguren
Felsen schreibt keine Moralfabel. Aber er zeigt, wie Macht wirkt – auch dort, wo sich ein Erzähler als Opfer inszeniert. Die Larmoyanz des Ichs, sein Wunsch, „verstanden“ zu werden, kippt in Kontrolle: Er analysiert, bewertet, beansprucht. Dass er sich später „an zwei Russinnen schadlos“ hält, ist kein Ausrutscher, sondern Symptom. Die Beziehung zu Ljolja war nie symmetrisch – und sollte es auch nie werden.
Ein Echo aus dem Exil
Getäuscht ist ein Exilroman – nicht durch seine äußere Handlung, sondern durch seine Verfasstheit. Es ist ein Text der Fremdheit, des Nicht-Zugehörens, der leisen Verzweiflung über das eigene Unvermögen, Verbindung herzustellen. Ljolja ist das verlorene Land, das unerreichbare Du, die verfehlte Sprache.
Dass Felsen diesen Text 1930 veröffentlichte, macht ihn nicht weniger gegenwärtig. Die Fragen, die er stellt – nach Ich, Begehren, Beobachtung – sind nicht vergangen. Sie hallen nach, präzise, unbequem, auf schmerzhafte Weise aktuell.
Ein Text als Spur
Dass Getäuscht heute wieder zugänglich ist – in deutscher und englischer Übersetzung –, ist ein literarisches Ereignis. Felsen wurde nach seinem Tod nicht vergessen, sondern übergangen. Seine Sprache war zu präzise, zu psychologisch, zu wenig politisch vereinnahmbar. Und seine jüdische Identität machte ihn nach der Shoah zu einem Namen ohne Nachlass.
Dass er nun lesbar wird, öffnet einen Resonanzraum: zwischen Literaturgeschichte, Sprachkritik und Erinnerung. Getäuscht ist kein Mahnmal. Es ist ein Echo – aus einer Zeit, in der Schreiben Widerstand bedeutete. Und Liebe ein Ort der Flucht war.
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