Was braucht es, um in Wien aufzusteigen? Ein bisschen Fleiß, ein bisschen Frechheit, und wenn alles schiefläuft – Haltung. In Fabula Rasa entwirft Vea Kaiser das Porträt einer Frau, die alles richtig machen will und am Ende alles falsch verbucht. Der Roman beginnt mit einem Glanzlicht – einem Lobmeyr-Luster im Grandhotel Frohner – und endet im Neonlicht der Gefängniszelle. Dazwischen liegt ein ganzes Leben, das sich konsequent auf eine Katastrophe zubewegt – wohlgeordnet, fein säuberlich in Spalten aufgeteilt.
Vom Gemeindebau in die Chefetage
Angelika Moser wächst im roten Wien auf, vaterlos, diszipliniert, mit einer Mutter, die mehr Prinzipien als Zärtlichkeit vermittelt. Als Erwachsene landet sie in der Verwaltung eines Luxushotels. Angelika fällt durch ihre Genauigkeit auf – im Auftreten ebenso wie in der Arbeit. Sie kleidet sich bewusst, achtet auf ihre Wirkung und führt ihre Aufgaben mit der gleichen Disziplin aus, die sie sich selbst abverlangt. Ihre Position im Hotel verdankt sie nicht nur ihrer Kompetenz, sondern auch ihrer Bereitschaft, sich anzupassen und Verantwortung zu übernehmen – solange sie den Rahmen kontrollieren kann.
Nach einer kurzen Babykarenz – zu kurz, wie man ahnt – kehrt sie als Chefin der Administration zurück. Die Verantwortung wächst, der Lohn bleibt mager, die Anforderungen steigen, auch privat: Ein Kind, ein Auto, ein Haus, ein Platz für die demente Mutter im Seniorenheim. Die Lösung? Angelika beginnt, Gelder aus der Hotelkasse auf private Konten umzuleiten – stets notiert, stets geplant, stets mit dem festen Vorsatz, alles zurückzuzahlen.
Doch wie bei Spielsüchtigen oder Aktienhändlern an der psychologischen Kante wird aus Planung bald Abhängigkeit. Und wie das mit Sucht nun einmal ist: Sie duldet keinen Rückschritt.
Ein Leben in geordneter Rückschau
Kaiser erzählt Angelikas Geschichte nicht linear, sondern rückblickend, als Protokoll aus dem Gefängnis. Die Autorin (oder ihre fiktionalisierte Erzählinstanz) besucht die verurteilte Angelika, hört zu, notiert, rekonstruiert. Dabei entsteht ein Erzählbogen, der von der Kindheit bis ins Erwachsenenleben des Sohnes reicht – ein halbes Jahrhundert zwischen Gemeindebau, Grandhotel und Gerichtssaal.
Die Struktur ist klar, chronologisch – und das macht den Sog aus: Man weiß, worauf es hinausläuft, doch gerade die Unaufgeregtheit, mit der das Scheitern erzählt wird, macht die Lektüre so beklemmend.
Angelika: Die Genauigkeit der Abweichung
Angelika bleibt stets Buchhalterin – selbst im Betrug. Sie führt akribisch Buch über jede Abbuchung, jeden Cent, den sie dem Hotel entwendet. Ihre Rechtfertigung: Es ist ja nur geliehen. Ihr Ziel: das Beste für ihren Sohn. Ihr Stil: effizient, unauffällig, mit einem Hang zum Glitzer, der sich auch mal in einem Opernballbesuch oder einem neuen Haus in bester Lage manifestiert.
Ihre Tragik liegt nicht im Versagen, sondern im Perfektionismus. Sie will alles im Griff haben – die Zahlen, die Lebensumstände, die Erwartungen anderer – und verliert dabei genau das, was sie zu schützen glaubt: Kontrolle.
Kaiserlich nüchtern – mit feinem Gespür für Eskalation
Vea Kaiser beschreibt diesen Werdegang nicht mit Pathos, sondern mit einem Blick, der beides zulässt: Empathie und Distanz. Ihre Sprache bleibt kontrolliert, auch dort, wo die Emotionen überkochen. Dialektausdrücke tauchen auf, nicht zur Folklore, sondern als Milieumarker. Die „Luftwatsche“, die Würstelstände, die Branntweiner ums Eck – sie alle sind Teil einer Welt, in der sich Identität und Alltag unauflöslich miteinander verstricken.
Die Milieus – Gemeindebau, Hotelküche, Verwaltungsbüro – sind exakt gezeichnet, nie überzeichnet. Man glaubt jeder Figur, auch wenn man sie verachten möchte. Vor allem aber spürt man: Hier wurde genau hingesehen, nicht nur fabuliert.
Kein Krimi, aber eine Katastrophenchoreografie
Wer hier einen Wirtschaftskrimi oder Justizthriller erwartet, wird enttäuscht. Fabula Rasa ist vielmehr eine Studie über Selbstüberschätzung, Mutterliebe und die stille Gewalt sozialer Unterschiede. Es geht weniger um Schuld als um Systeme, weniger um Justiz als um Gerechtigkeit.
Angelikas Fall ist exemplarisch, nicht weil er spektakulär ist, sondern weil er schleichend, logisch, fast zwangsläufig erscheint. Der Roman zeigt, wie leicht es ist, Maßstäbe zu verlieren, wenn der Druck steigt – und wie schwer es ist, sich selbst zu vergeben.
Ein Nachsatz mit Fallhöhe
Man kommt nicht umhin, beim Lesen an Hans Fallada zu denken – nicht wegen der Zeit, nicht wegen des Schauplatzes, sondern wegen der Haltung: Diese klare, unbestechliche Art, soziale Bewegungen zu vermessen, ohne moralisch zu dozieren. Auch bei Kaiser geht es nicht um große Ideen, sondern um das kleine, konkrete Leben, das sich im System zu behaupten versucht – und daran scheitert, weil es zu viel will oder zu lange durchhält.
Was Fallada zwischen Ostsee und Berlin entfaltete, das gelingt Kaiser zwischen Gemeindebau und Grandhotel: eine Choreographie des alltäglichen Chaos, genau beobachtet, dicht erzählt, still eskalierend. Das ist mehr als Unterhaltung – das ist Gegenwartsliteratur mit Tiefenschärfe.
Autorin Vea Kaiser
Vea Kaiser, Jahrgang 1988, lebt in Wien. Sie wurde mit ihren Romanen Blasmusikpop, Makarionissi und Rückwärtswalzer bekannt. Mit Fabula Rasa legt sie ihr bislang komplexestes Werk vor – persönlich, gesellschaftskritisch, literarisch präzise.
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