Update: Oper „Rummelplatz“ in Chemnitz
Nach eigenem Erleben der Oper in Chemnitz – der kommenden Kulturhauptstadt 2025 – kann ich nur sagen: fulminant.
Ludger Vollmer übersetzt Werner Bräunigs industrielles Epos in eine Musik, die den Herzschlag einer Zeit hörbar macht. Die ersten Akte sind geprägt vom Geist Schostakowitschs: Arbeitergesänge, rhythmische Härte, die Maschine als Klang. Nach der Pause kippt das – das Pathos bricht, Volkslied und Lorelei treten hervor, als Rückzug in alte Mythen, als müder Nachhall einer erschöpften Idee.
Jenny Erpenbecks Libretto dagegen erklärt viel. Der pädagogische Ansatz ist fast greifbar. Wo Bräunig Zweifel und Widerspruch stehen ließ, wird hier erklärt, gedeutet. Besonders das Ende – die Abwicklung der Wismut nach der Wende – legt einen moralischen Schlusspunkt.
Vollmers Musik dagegen trägt. Sie hält die Spannung aus, zeigt Bewegung und Zusammenbruch zugleich. Vielleicht ein Hoffnungsschimmer für jüngere Opernbesucher, die keine ideologische Last, sondern nur das Werk selbst erleben. Und Bräunig? Ihn können wir nur nach dem beurteilen, was geblieben ist. Er ist tot, wie das System, das ihn geformt und verschlungen hat.
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Wenn in Chemnitz, einst Karl-Marx-Stadt, ein Roman aus der Gründungszeit der DDR zur Oper wird, ist das mehr als ein Bühnenexperiment. Es ist ein literarisches Wiederhören – und eine späte Würdigung. Jenny Erpenbeck als Librettistin und Komponist Ludger Vollmer bringen Rummelplatz auf die Bühne. Ihre Bearbeitung, reduziert auf vier Hauptfiguren, bleibt nah am sozialen und emotionalen Kern des Romans. Und macht deutlich: Die Geschichte, die Werner Bräunig erzählen wollte, ist nicht vergangen.
Der gleichnamige Roman, 2007 posthum erschienen, erzählt von einem Staat im Werden, einem Alltag zwischen Aufbruch und Ernüchterung, zwischen Uranabbau, Care-Paketen und politischer Utopie. Die Wismut, jener gigantische Bergbaubetrieb im Erzgebirge, bildet mehr als nur den geologischen Hintergrund – sie wird zur Bühne für die sozialen Spannungen einer neuen Gesellschaft. Und zur Folie für ein Buch, das nie fertig werden durfte.
Ein Roman wird begraben – und wieder ausgegraben
Rummelplatz ist ein Fragment. Nicht weil dem Autor die Zeit, das Talent oder der Atem fehlten. Sondern weil das System, in dem er schrieb, nicht bereit war für die Realität, die er beschrieb. Zwischen 1959 und 1966 verfasst, konzipiert als zweiteiliger Entwicklungsroman über das erste Nachkriegsjahrzehnt der DDR, geriet Bräunigs Manuskript in die ideologische Schusslinie der SED-Kulturpolitik. Der junge Schriftsteller – Arbeiterkind, SED-Mitglied, Hoffnungsträger des Bitterfelder Weges – hatte sich vorgenommen, den Gründungsmythos der DDR literarisch zu fassen. Heraus kam ein Text, der genau dies tat – aber anders, als es den Funktionären lieb war.
Im Zentrum steht das fiktive Dorf Bermsthal, ein Abbild der realen Wismut-Region, in der zwischen 1949 und dem 17. Juni 1953 zehntausende Männer – Kriegsheimkehrer, Abenteurer, Entwurzelte – für gutes Geld und unter extremen Bedingungen Uran abbauen. Inmitten von Schachtanlagen, russischer Verwaltung und politischer Unerfahrenheit treffen Ideal und Wirklichkeit frontal aufeinander. Und Bräunig schaut genau hin.
Ein Jahr zuvor hatte Erik Neutsch für Spur der Steine den Nationalpreis erhalten – ebenfalls ein Roman über Konflikte in der Produktion. Bei Bräunig reichte derselbe Realismus für eine Pressekampagne. Ulbricht sprach von „zersetzenden Tendenzen“, das Neue Deutschland schoss nach. Was dort als produktive Kritik galt, wurde hier als Angriff gewertet. Bräunig war kein Dissident – aber er schrieb, als wäre Ehrlichkeit erlaubt. Das war der Fehler.
Realismus, der gefährlich wurde
Was Bräunig schreibt, ist nicht heroisch, nicht moralisierend, sondern durchdrungen von sozialer Beobachtung und psychologischer Tiefe. Seine Figuren sprechen in einer Sprache, die nicht geschönt ist, sondern gelebt. Die Perspektive ist offen, nicht didaktisch. Der Ton sachlich, nicht euphorisch. Genau darin liegt die Kraft – und das Problem: Denn Bräunigs Realität ließ sich nicht in den sozialistischen Realismus überführen, der auf Parolen und Erbauung setzte.
Die Veröffentlichung wurde systematisch verhindert. Bräunig, der sich nicht zur öffentlichen Selbstkritik zwingen ließ, gab 1966 auf. Der Roman blieb unvollendet, das Projekt literarisch begraben.
Ein sozialistischer Realist gegen seinen Willen
Bräunig war kein Gegner des Sozialismus – er glaubte an das gesellschaftliche Projekt, das er beschrieb. Aber er bestand darauf, es in seinen Widersprüchen darzustellen. Damit wurde er zum Feind aus den eigenen Reihen – ein realistischer Autor, der den Realismus ernst nahm. Diese Treue zur Wahrheit war gefährlicher als offene Ablehnung. Denn sie zeigte, wie groß die Diskrepanz war zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Bild und Leben.
Die DDR forderte Realismus – aber keinen, der die Realität ernst nimmt. Viele Texte zielten auf Konsens. Bräunig jedoch unterläuft diese Logik: Seine Figuren sind keine Träger politischer Botschaften, sondern Ausdruck ihrer Widersprüche. Sein Realismus destabilisiert, statt zu bestätigen. Damit wurde er literarisch unbrauchbar – und politisch brisant.
Dass Bräunig die Arbeit an Rummelplatz aufgab, war weniger eine Entscheidung als eine Kapitulation vor einem Apparat, der Kritik nicht als Entwicklungsmoment verstand. Der Roman, konzipiert als Bildungs- und Gesellschaftsroman einer Generation, wurde zur Chiffre für ein System, das mit Widerspruch nicht umgehen konnte.
Ein Buch der vielen Stimmen
Rummelplatz ist literarisch ambitioniert, polyphon, dicht. Bräunig verwebt Biografien, Milieus und Generationen, ohne sie didaktisch zu glätten. Seine Figuren sind keine Vorbilder, sondern Spiegelbilder: mal ratlos, mal zornig, oft zerrissen. Der Roman ist ein soziales Kaleidoskop, das gerade durch seine Fragmenthaftigkeit wirkt wie ein aufgeschlagenes Archiv.
Literaturwissenschaftlich gilt der Text inzwischen als Teil einer „Literatur um die Wismut“ – nicht im dokumentarischen Sinne, sondern als komplexer Erinnerungsraum. Die Wismut erscheint hier nicht nur als sozialer Ort, sondern als kulturelle Projektionsfläche – durchzogen von Ästhetik, Ideologie, Geschichte. Bräunigs Realismus verweigert einfache Lesbarkeit. Seine Stärke liegt genau darin.
Nachgeschichte eines verhinderten Romans
Das Manuskript galt lange als verschollen, ehe es 2005 im Archiv des Mitteldeutschen Verlags wieder auftauchte. 2007 erschien Rummelplatz im Aufbau-Verlag, herausgegeben von Angela Drescher, mit einem Vorwort von Christa Wolf. Die Rezeption war eindeutig: „Ein Ereignis“, schrieb der Spiegel. Günter Grass nannte es „ein großes Buch“, Franziska Augstein sah in Bräunig jemanden, der mit Grass, Walser und Böll auf Augenhöhe hätte schreiben können. 2007 war Rummelplatz für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – 41 Jahre nach seinem Tod.
Bräunig selbst schrieb nie wieder einen Roman. Sein literarischer Weg endete hier.
Schlussgedanke: Ein anderer Stahl
Wer Rummelplatz liest, denkt unweigerlich an jenes Buch, das in der DDR als Idealtyp galt: Wie der Stahl gehärtet wurde. Bräunig kannte es, wie alle. Aber sein Stahl wurde nicht gehärtet – er sprang. Statt einer Heldenbiografie erzählt Rummelplatz vom Auseinanderfallen: von Arbeit, die nicht erlöst, von Menschen, die nicht aufgerichtet, sondern verschlissen werden. Während Pawel Kortschagin sich aufopfert und daran wächst, schauen Bräunigs Figuren dem eigenen Scheitern ins Gesicht. Und genau das macht diesen Roman so gefährlich – und so gegenwärtig.
Weitere Aufführungen:
Weitere Termine
19:30 Uhr
Opernhaus Chemnitz, Theaterplatz 2, 09111 Chemnitz
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