Liebe, Schuld und die Versuchung des Abgrunds Michael Köhlmeier – Die Verdorbenen

Vorlesen

Michael Köhlmeier, einer der beharrlichsten Erzähler über die Schatten im Menschen, legt mit Die Verdorbenen einen Roman vor, der kürzer scheint, als er nachklingt. 160 Seiten reichen ihm, um das alte Thema der Schuld so eng zu umkreisen, dass man sich als Leser unweigerlich hineingezogen fühlt. Das Buch ist keine große Familienchronik, kein breit gefächerter Gesellschaftsroman, sondern eine konzentrierte, beinahe kammerartige Versuchsanordnung über das Zusammenspiel von Liebe, Besessenheit und einer Schuld, die nie vollständig ausgesprochen werden kann.

Michael Köhlmeier – Die Verdorbenen Michael Köhlmeier – Die Verdorbenen Michael Köhlmeiers Die Verdorbenen ist ein kurzer, aber eindringlicher Roman über Liebe, Schuld und die unheimliche Versuchung des Bösen. In der Geschichteentfaltet sich ein beklemmendes Dreieck, das weniger eine Liebesgeschichte als eine Studie über menschliche Abgründe ist. Köhlmeier gelingt es, auf knappem Raum eine existenzielle Spannung aufzubauen, die weit über die Lektüre hinaus anhält. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

Hier bestellen

Die Verdorbenen: Roman

Zwischen Hörsaal, Heimweh und Abgrund

Johann studiert Anfang der siebziger Jahre Germanistik in Marburg an der Lahn. Von den dreihundert Mark seiner Eltern muss er Miete und Essen bestreiten. Als sein Vater die Stelle bei der Lokalredaktion kündigt, steht der Sohn plötzlich auf sich allein gestellt. Das Verhältnis zu ihm war schon zuvor schwierig: Sie lieferten sich endlose Wortgefechte, ein Wettbewerb im Besserwissen, der nie Sieger hervorbrachte. Seine Mutter, promovierte Literaturwissenschaftlerin aus England, hatte stets geringere Erwartungen – außer vielleicht, dass er ein „guter Mensch“ werden möge.

Johann bewirbt sich als Tutor, um neue Studenten einzuführen, und verdient bald mehr Geld, als er braucht. Doch im Hintergrund wirkt eine Erinnerung, die ihn seit seiner Kindheit nicht loslässt. Sein Vater hatte ihn als Sechsjährigen gefragt, was sein Wunsch für ein ganzes Leben sei. Johann bat um Bedenkzeit, verschob die Antwort – und schwieg am nächsten Morgen. Denn was er gedacht hatte, konnte er nicht aussprechen: dass er einmal in seinem Leben einen Mann töten wolle.

Dieses dunkle Geständnis, nie ausgesprochen, legt sich wie ein Schatten auf seine Jugend.

Begegnung mit Tommi und Christiane

Am Ende des Semesters begleitet Johann eine Gruppe Studierender aufs Land, in ein Heim der Universität. Unter ihnen ist ein Paar, das sich schon seit der Volksschule kennt: Tommi, groß und dünn, das Gesicht von Narben gezeichnet, mit sanfter Stimme, und Christiane, die an seiner Seite fast unsichtbar bleibt. Beide wirken außerhalb der Dynamik der Gruppe, als hätten sie in ihrer engen Verbindung keinen Platz unter den anderen. Johann geht mit Christiane um den See, spricht mit ihr über Belangloses, ohne weiter nachzudenken.

Eine Woche später lädt das Paar ihn zum Trinken ein. Erst schweigen sie, dann platzt es aus Christiane heraus: Sie werde zu Johann ziehen. Er versteht nicht, zumal er in einer Vierer-WG lebt. Als er sie später kurz allein sprechen kann, erklärt sie, dass sie sich von Tommi trennen und mit ihm zusammen sein wolle. Johann, überrascht, beinahe erschrocken, lehnt ab. Christiane rennt davon.

Aus dieser Szene, scheinbar klein, spinnt Köhlmeier die Fäden weiter. Was als beiläufiges Beziehungsgeflecht beginnt, entwickelt sich zum Dreieck, das von Nähe und Distanz, von Macht und Ohnmacht bestimmt ist.

Das Böse als intime Versuchung

Dass Köhlmeier das Böse nicht als abstrakte Kategorie, sondern als etwas ganz Nahes, beinahe Vertrautes begreift, macht den Roman so beklemmend. Das Böse ist nicht der große Dämon, der von außen einbricht, sondern die unscheinbare Regung, die unbemerkt in den Alltag einsickert. Johann will kein Monster sein, er ist kein kalkulierender Täter, sondern jemand, der die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung in sich trägt.

Die Dreieckskonstellation wirkt dabei wie ein altes literarisches Motiv – von Goethes Wahlverwandtschaften bis zu Musils Beobachtungen über „die andere Möglichkeit“ – doch Köhlmeier schreibt es nicht als Gesellschaftsspiel, sondern als existenzielles Ringen. Der Roman fragt, ob Nähe zwangsläufig auch Gewalt in sich trägt, ob Liebe immer auch Besitz ist, und ob Schuld nicht manchmal schon in den Gedanken beginnt.

Stilistisch bleibt Köhlmeier seiner lakonischen Genauigkeit treu. Er vermeidet das große Pathos, er zieht keine moralischen Lehrsätze, sondern erzählt so nüchtern, dass die Abgründe umso deutlicher hervortreten. Oft genügen ihm wenige, knappe Sätze, um eine Stimmung von drohender Katastrophe aufzubauen.

Ein schmaler Roman

Die Verdorbenen ist ein Buch, das gerade wegen seine Kürze enorm eindringlich wirkt.

Köhlmeier zeigt, dass man für die große Frage – wie nah wir dem Bösen wirklich sind – keine 800 Seiten braucht, sondern die Präzision einer klar geführten Erzählung.

Literaturhistorisch fügt sich das Buch in Köhlmeiers langes Werk über die dunklen Seiten menschlicher Erfahrung ein. Wie schon in seinen Erzählungen über Sagen und Mythen, in denen Gewalt, Schuld und Verhängnis immer präsent waren, bleibt er auch hier bei der Überzeugung: Das Böse ist nicht fern, es ist in uns selbst. Doch diesmal erzählt er nicht in mythologischen Bildern, sondern in der Sprache einer Generation, die zwischen Aufbruch und Verunsicherung pendelte.

Zum Autor Michael Köhlmeier

Michael Köhlmeier, geboren 1949 in Hard am Bodensee, zählt zu den prägenden Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur. Bekannt wurde er durch seine Romane, Novellen und Nacherzählungen antiker Mythen und biblischer Geschichten, in denen er stets das Verhältnis von Schuld, Gewalt und menschlicher Sehnsucht thematisiert. Mit Die Verdorbenen führt er diese Auseinandersetzung in einer komprimierten Form fort, die ihn einmal mehr als Meister der literarischen Verdichtung zeigt.


Hanser Verlag, erschienen am 28. Januar 2025, 160 Seiten



Hier bestellen

Die Verdorbenen: Roman

Gefällt mir
0
 

Topnews

Mehr zum Thema

Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen Die Holländerinnen ist ein vielschichtiger, bildmächtiger Roman, der sich weigert, bequem konsumierbar zu sein. Dorothee Elmiger führt ihre Leser in einen Dschungel der Sprache, in dem sich Kolonialgeschichte, Theaterdiskurs und existentielle Fragen überlagern. Wer bereit ist, sich diesem Dunkel auszusetzen, findet darin nicht nur eine literarische Erfahrung, sondern auch ein Nachdenken über die Verantwortung des Erzählens im 21. Jahrhundert. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Buchvorstellung

Dorothee Elmiger – Die Holländerinnen

Aktuelles

Michael Köhlmeier – Die Verdorbenen Michael Köhlmeier – Die Verdorbenen Michael Köhlmeiers Die Verdorbenen ist ein kurzer, aber eindringlicher Roman über Liebe, Schuld und die unheimliche Versuchung des Bösen. In der Geschichteentfaltet sich ein beklemmendes Dreieck, das weniger eine Liebesgeschichte als eine Studie über menschliche Abgründe ist. Köhlmeier gelingt es, auf knappem Raum eine existenzielle Spannung aufzubauen, die weit über die Lektüre hinaus anhält. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Buchvorstellung

Michael Köhlmeier – Die Verdorbenen

Rezensionen