Kaum ist der Applaus für Han Kang, die 2024 den Literaturnobelpreis erhielt, verklungen, beginnt der Kreislauf der Spekulation von Neuem. Noch liegt der Oktober in der Ferne, doch die ersten Favoritenlisten sind bereits veröffentlicht – und mit ihnen die Quoten, die die Buchmacher auf mögliche Preisträger setzen.
Dabei geht es weniger um eine ernsthafte Vorhersage als um ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten. Quoten sind Momentaufnahmen der literarischen Stimmungslage: Sie spiegeln wider, wer derzeit im Gespräch ist, wessen Bücher in Übersetzungsprogrammen auftauchen und wer in den Feuilletons als Kandidat gehandelt wird.
Die vier Spitzenreiter – Gleichstand an der Spitze
Laut OLBG-Stand (August 2025) – einer britischen Plattform, die Quoten verschiedener Buchmacher sammelt und auch für den Literaturnobelpreis veröffentlicht – teilen sich vier Namen die Spitzenposition mit einer Quote von 6:1, was einer rechnerischen Gewinnchance von rund 14,3% entspricht.
- Anne Carson – Kanadische Dichterin, deren Werk zwischen antiker Mythologie, moderner Lyrik und essayistischen Formen pendelt.
- Haruki Murakami – Der japanische Romancier ist seit Jahrzehnten ein „ewiger Favorit“. Seine Mischung aus magischem Realismus, Popkultur-Referenzen und melancholischen Helden hat ihm eine riesige Leserschaft eingebracht – und die wiederkehrende Frage, ob die Schwedische Akademie ihn endlich krönt.
- Can Xue – Chinas Meisterin des literarischen Experiments, deren Prosa häufig an Surrealismus grenzt. Ihre Geschichten sind rätselhaft, brüchig, manchmal verstörend – und genau das könnte sie für die Jury interessant machen.
- Mircea Cărtărescu – Rumäniens großer Erzähler, dessen Romane wie opulente Traumarchitekturen wirken. Sein Werk ist bildreich, poetisch und tief in der europäischen Literaturtradition verwurzelt, ohne museal zu sein.
Die Verfolger – aus dem Schatten ins Rampenlicht?
Knapp hinter diesem Quartett liegt Gerald Murnane mit einer Quote von 10:1 (ca. 9 %). Der Australier gilt als literarischer Einzelgänger: Er hat sein Heimatdorf seit Jahrzehnten kaum verlassen, aber in seinen introspektiven Texten weite Innenwelten erschlossen.
Ebenfalls im erweiterten Favoritenfeld:
- Ngũgĩ wa Thiong’o (Kenia) – moralische Stimme der postkolonialen Literatur, seit Jahren in der Debatte.
- Adonis (Syrien/Libanon) – einer der bedeutendsten Lyriker der arabischen Moderne, der Tradition und Erneuerung miteinander verbindet.
- Ismail Kadare (Albanien) – Chronist einer Nation und ihrer Mythen, dessen Werk zwischen politischer Allegorie und epischer Erzähltradition steht.
Han Kang 2024 – ein leiser Überraschungssieg
Das Vorjahr hat gezeigt, wie trügerisch Quoten sein können. Han Kang stand bei Buchmachern wie Ladbrokes 2024 mit 33:1 in den Listen – was etwa 3 % rechnerische Chance bedeutete. In den Favoritenlisten spielte sie kaum eine Rolle.
Dann kam der Oktober: Auf die Bühne trat eine Autorin, deren poetische Präzision historische wie persönliche Traumata verdichtete. Für die Literaturwelt war es eine Entscheidung mit Signalwirkung, für Quotenfreunde ein Paradebeispiel dafür, wie wenig sich literarische Urteile in Zahlen fassen lassen.
Es ist das kleine Paradox des Literaturnobelpreises: Es kann nur einen geben – und der ist oft genau der, den fast niemand erwartet.
Zwischen Wettliste und Wirklichkeit
Quoten sind bestenfalls Orakel, sie registrieren feine Verschiebungen im literarischen Gefüge. Sie spiegeln wider, welche Stimmen derzeit im Zentrum der Debatte stehen, welche Werke im Gespräch stehen und so das Meinungsfeld besetzen.
Selten, selten- oder nie
In seltenen Fällen haben die Wettlisten tatsächlich den späteren Preisträger ganz oben geführt:
- Tomas Tranströmer (2011) stand kurz vor der Verkündung bei Ladbrokes auf Platz 1.
- Bob Dylan (2016) rückte wenige Tage vor der Entscheidung auf die Spitzenposition und wurde ausgezeichnet.
- Kazuo Ishiguro (2017) war zwar nicht unangefochten Favorit, lag aber bei vielen Buchmachern weit vorn.
Weitaus öfter lagen die Listen daneben – wie 2024 bei Han Kang mit 33:1 oder 2021 bei Abdulrazak Gurnah, der überhaupt nicht auf den Quotenlisten auftauchte.
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