Mary Shelleys Mathilda, geschrieben im Jahr 1819, blieb fast 140 Jahre unveröffentlicht. Der Grund? Die Autorin wagte sich an ein Thema, das zur damaligen Zeit und auch lange danach als unsagbar galt: die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter – nicht väterlich, sondern in zerstörerischer Grenzüberschreitung. William Godwin, ihr Vater und gleichzeitig Verleger, weigerte sich, den Text zu drucken. Zu anstößig, zu verstörend. Erst 1959 wurde Mathilda erstmals ediert, nun liegt endlich eine deutschsprachige Ausgabe vor – in der Übersetzung von Stefan Weidle, der nicht nur die sprachliche Intensität des Originals einfühlsam überträgt, sondern auch ein informatives Nachwort beigesteuert hat.
Ein einziger Brief – ein ganzer Abgrund
Der Roman ist ein Monolog – eine ausgedehnte Beichte, gerichtet an einen fernen Freund namens Woodville. Keine Kapitel, keine Dialoge, kaum äußere Handlung. Was Mary Shelley hier entfaltet, ist ein inneres Drama in literarischer Höchstspannung. Gleich zu Beginn wird deutlich, dass sich das Geschehen ganz auf der psychischen Bühne abspielt:
„Ich befinde mich in einem seltsamen Zustand. Ich bin allein, ganz allein in dieser Welt – der Pesthauch des Unglücks ist über mich hinweggezogen und hat mich ausgedörrt.“
Shelley beschreibt keine Ereignisse, sondern Zustände. Die winterliche Landschaft – „eine weite, einsame Heide“, in die sich die Protagonistin zurückgezogen hat – ist keine Kulisse, sondern Spiegelbild der inneren Ödnis. Die Natur metaphorisiert Emotionen: Wasserfälle stürzen, wenn Mathilda schweigt, Stürme toben, wenn sie weint.
Das Geständnis des Vaters – und sein Schweigen
Der eigentliche Kern des Textes liegt in der erschütternden Wiederbegegnung mit dem Vater. Nach Jahren des Schweigens kehrt er zurück, zunächst zögerlich, dann übergriffig. Er gesteht der Tochter seine Liebe – nicht väterlich, sondern in ihrer gefährlichsten Form. Shelley beschreibt diesen Moment mit großer Zurückhaltung und gleichzeitig unüberhörbarer Deutlichkeit. Der Vater begeht Suizid. Was folgt, ist kein Aufbruch, sondern ein Absturz: Mathilda verfällt in Schuld, Selbstverachtung und Isolation.
Dabei verzichtet der Text auf moralische Empörung. Er analysiert nicht – er offenbart. Shelley beschreibt nicht die Tat, sondern deren Wirkung. Mathilda ist weniger eine Skandalgeschichte als eine psychologische Fallstudie, geschrieben im Stil der schwarzen Romantik, aber mit einer analytischen Schärfe, die an spätere Autorinnen wie Charlotte Perkins Gilman oder Sylvia Plath erinnert.
Frankenstein im Schatten
Wer Frankenstein kennt, erkennt viele Motive wieder: die isolierte Hauptfigur, das existenzielle Scheitern, die Einsamkeit als Abgrund. Doch während Victor Frankenstein aus Hybris ein Monster erschafft, das sich gegen ihn wendet, wird Mathilda zum Opfer eines Systems, das sie nicht erschaffen, aber auch nicht verändern kann. Shelley kontrastiert hier zwei Formen von Schuld: die aktive und die erlittene.
Die Themen der schwarzen Romantik – Todessehnsucht, Wahnsinn, Schuld und Sprachlosigkeit – durchziehen den Text, ohne ihn je in Pose verfallen zu lassen. Stattdessen ist Mathilda ein Kammerspiel innerer Katastrophen. Ein Mythos weiblicher Auslöschung, erzählt in der Form eines endlosen Abschieds.
Ein Stil der Überfülle – und seine Notwendigkeit
Shelleys Sprache ist reich, bildhaft, ausufernd – aber nie zufällig. Die lange Satzstruktur, die teils barocke Metaphorik, das Übermaß an Pathos: All das ist nicht Schwäche, sondern Ausdruck eines inneren Zustands, der sich nicht in nüchternen Worten mitteilen lässt. Stefan Weidles Übersetzung gelingt es, diesen Balanceakt zu halten: Sie bleibt nahe am Original, ohne in veraltetes Pathos oder Kitsch zu kippen.
Warum Mathilda heute lesen?
Weil dieser Text offenbart, was Literatur manchmal leisten muss: sprechen, wo das Sprechen unmöglich scheint. Shelley schreibt über psychische Zustände, für die es damals keine Sprache gab – und findet genau deshalb eine Form, die auch heute noch erschüttert. Mathilda ist ein Roman über Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, und über die Wunden, die solche Überschreitungen hinterlassen.
In einer Zeit, die sich gern als enttabuisiert begreift, ist dieses lange unterdrückte Werk aktueller denn je. Es erzählt nicht nur eine verbotene Geschichte – es zeigt, was geschieht, wenn das Unsagbare keinen Raum findet. Vielleicht wurde Mathilda deshalb so lange verschwiegen. Und vielleicht ist genau jetzt die Zeit, es endlich zu lesen.
Die Autorin: Mary Shelley (1797–1851)
Mary Wollstonecraft Shelley war mehr als nur die Schöpferin von Frankenstein – sie war eine intellektuell hochgebildete, literarisch eigenständige Autorin, deren Werk weit über das bekannte Frühwerk hinausreicht. Geboren 1797 als Tochter zweier berühmter Denker – der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des Philosophen William Godwin – wuchs sie in einem Umfeld auf, das Rationalismus und gesellschaftlichen Fortschritt prägte, aber wenig emotionale Geborgenheit bot. Der frühe Tod ihrer Mutter hinterließ eine Leerstelle, die sich auch in ihren literarischen Motiven – Verlust, Sprachlosigkeit, Isolation – widerspiegelt.
Mit Percy Bysshe Shelley, den sie 1814 als Teenager kennenlernte, lebte sie bald im geistigen und gesellschaftlichen Exil. Ihre Ehe war geprägt von großer Nähe, aber auch von Verlusten – mehrere Kinder starben früh, und das Paar lebte unstet und oft am Rand der Gesellschaft. In dieser Zeit entstand auch Mathilda (1819), ein Text, der die persönlichen Abgründe dieser Jahre mit literarischer Radikalität verarbeitet. Die Veröffentlichung wurde von ihrem Vater verhindert – ein Schweigen, das sinnbildlich für die Rezeption weiblicher Stimmen im 19. Jahrhundert steht.
Berühmt wurde Mary Shelley durch Frankenstein; or, The Modern Prometheus (1818), einen Roman, der oft als Gründungsdokument der Science-Fiction gilt, in Wahrheit aber ein tief moralischer und psychologischer Text über Schöpfung, Verantwortung und Entfremdung ist. Nach Percys frühem Tod 1822 lebte Shelley als Witwe in London, wo sie als Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin arbeitete – oft unter prekären Bedingungen.
Ihr Werk umfasst neben Frankenstein und Mathilda auch Romane wie Valperga (1823), The Last Man (1826) und zahlreiche biografische, essayistische und politische Schriften. Sie starb 1851 in London – verkannt als Witwe eines Dichters, unterschätzt als Autorin, und doch längst eine der bedeutendsten Stimmen der englischen Romantik.
Pendragon Verlag, 26.02.2025
Übersetzung: Stefan Weidle