Ngũgĩ wa Thiong’o, dessen Leben wie ein literarischer Gegenentwurf zur kolonialen Moderne wirkte, starb am 28. Mai 2025 im Alter von 87 Jahren im amerikanischen Exil. Ein afrikanischer Schriftsteller? Das wäre zu kurz gegriffen. Er war ein Spracharchitekt, ein politischer Denker, ein Gefangener ohne Urteil und ein Lehrer, der die kulturelle Demontage des Empire mit Tinte und Zunge betrieb.
Seine Bücher las man nicht, man durchquerte sie. Mit dem Gefühl, dass Literatur auch dann noch von Bedeutung ist, wenn die Gewehre längst verstummt haben – oder gerade dann.
Die Sprache der Gewalt – und die Gewalt der Sprache
Ngũgĩ wurde in Kamiriithu geboren, mitten in die Kolonialherrschaft der Briten hinein, die nicht nur Land raubte, sondern auch die Sprache der Menschen. Was folgte, ist nicht nur Biografie, sondern Chiffre: Zwei Brüder sterben im Mau-Mau-Krieg, die Mutter wird gefoltert, Ngũgĩ selbst inhaftiert – später, nach dem Erfolg seines Theaterstücks Ngaahika Ndeenda, ohne Anklage, aber mit Wirkung. Die Literatur antwortete auf die Repression: Devil on the Cross entstand im Gefängnis, auf Toilettenpapier geschrieben, was symbolischer kaum geht.
Es war 1977, als Ngũgĩ ein letztes Mal auf Englisch schrieb. Fortan: Kikuyu. Nicht aus Trotz, sondern aus Überzeugung. Seine Muttersprache sollte nicht das Subjekt exotischer Fußnoten bleiben, sondern das Fundament einer anderen Zukunft. Acht Millionen Menschen sprechen Kikuyu – und für sie schrieb er, in klarer, unsentimentaler Prosa, mit dem Zorn eines Enttäuschten und dem Trotz eines Unbeugsamen.
Exil mit offenen Akten
1959 verließ Ngũgĩ Kenia, studierte in Uganda, kehrte zurück, wurde verfolgt, und floh schließlich erneut. In den USA lehrte er vergleichende Literaturwissenschaft – ein schöner Euphemismus für jemanden, der die globale Asymmetrie kultureller Machtverhältnisse in jeder Silbe sezierte. Dort entstand auch sein Spätwerk Wizard of the Crow (Herr der Krähen), ein allegorisches Epos über Diktatur, Narzissmus und die groteske Bürokratie postkolonialer Regime. Kein afropolitanischer Leichenduft, kein stylisierter „third world chic“, sondern bissige Satire im Rhythmus der afrikanischen Erzähltradition.
Seine Essays – etwa Dekolonisierung des Denkens – wurden zum Kanon jeder ernstzunehmenden postkolonialen Lektüre. Darin analysiert Ngũgĩ die koloniale Gewalt nicht nur als historische Tatsache, sondern als strukturelle Logik, die auch in Schulbüchern, Bibliotheksordnungen und literarischen Kanons weiterlebt. Es war seine Lebensaufgabe, diese Strukturen sichtbar zu machen – nicht mit dem Holzhammer, sondern mit Präzision und Witz.
Keine Ehrung, keine Überraschung
Dass Ngũgĩ wa Thiong’o nie den Literaturnobelpreis erhielt, überrascht höchstens noch die Literaturbeilage. Womöglich war er zu konsequent, zu wenig kompromissbereit, zu politisch im besten Sinne. Ein Mann, der nicht schreiben wollte, um gehört zu werden, sondern um zu erinnern, zu ermutigen – und zu stören. Sein Tod ist kein Rückzug, sondern eine letzte Fußnote zur These: Dekolonisierung ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern ein unvollendeter Satz.
Ngũgĩs Einfluss reicht über das Literarische hinaus. Er war eine Denkbewegung, ein intellektueller Reizstoff. Die Würdigung nach seinem Tod war international – und dennoch wirkte sie seltsam verzögert, fast pflichtschuldig. Als hätte man den Wert seines Lebenswerks erst wirklich erkannt, als es sich nicht mehr wehren konnte.
Erinnerung als Auftrag
Ngũgĩ schrieb, wie andere kämpfen. Er behandelte Sprache nicht als Mittel, sondern als Front. Seine Figuren waren keine Helden, sondern Chronisten. Seine Bücher – unbequem, nötig, unerlässlich. Wer Herr der Krähen gelesen hat, weiß: Es geht nicht um Fabeln, sondern um Systeme. Wer Devil on the Cross kennt, versteht: Der Ort des Widerstands ist oft ein sehr kleiner Raum mit sehr großer Wirkung.
Jetzt ist er gegangen. Die Literaturwelt verneigt sich, ein wenig spät, ein wenig schuldbewusst. Vielleicht ist das sein letzter Triumph: Dass sein Leben eine Erinnerung bleibt an das, was Sprache leisten kann – wenn man sie nicht korrumpiert.
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