Versicherungen sind dafür da, uns vor dem Schlimmsten zu bewahren. Kathrin Bach zeigt, was passiert, wenn sie zum Lebensentwurf werden – und was übrig bleibt, wenn der Schutz nicht greift. Lebensversicherung ist kein Buch über Versicherungen, sondern ein Buch, das sie ernst nimmt. Nicht in ihrer Produktlogik, sondern in ihrem Versprechen: Sicherheit. Das Resultat ist eine stille Chronik des Misstrauens gegenüber der Welt – fein ziseliert, tragikomisch und aus der Tiefe der westdeutschen Provinz erzählt.
Kathrin Bach: Lebensversicherung
Die Ich-Erzählerin wächst in einem Dorf auf, das sich entlang einer Bundesstraße erstreckt, durchzogen von einem Fluss und getrennt in zwei Hälften: Auf der einen Seite die Eltern, auf der anderen die Kinder, die irgendwann selbst zu Eltern werden. Fertighäuser im Neubaugebiet, der Friedhof auf dem Hügel, der Grillplatz, der Spielplatz, auf dem niemand spielt. Und mittendrin: ein Versicherungsbüro im Souterrain des Elternhauses. Kunden-WC inklusive.
Protokoll einer Kindheit
Schon früh lernt das Kind, dass Sicherheit ein Geschäftsmodell ist. Die Eltern verkaufen, was auch schon die Großväter verkauften: Policen gegen das Risiko. Berufsunfähigkeit, Unfall, Zahnersatz, Tod. Es gibt Listen, Statistiken, Obduktionsberichte, Tragegurte, Aufzüge, die groß genug für Betten sind. Und es gibt eine Erzählerin, die all das aufnimmt – mit einer Aufmerksamkeit, die zwischen Protokoll und Poesie pendelt.
„Ich bin vierunddreißig Jahre alt und habe Angst“, lautet der erste Satz. Ein Satz, der stehen bleibt. Weil er nicht erklärt, nicht inszeniert. Sondern benennt, was ist. Diese Angst hat Geschichte: Sie ist vererbt, eingeübt, abgesichert. Bach schreibt: „Ich habe die Angst meiner Mutter. Die Angst meines Vaters. Die Angst unseres Dorfes.“ Das Buch ist voll solcher Sätze. Klar, rhythmisch, beiläufig präzise. Es sammelt die kleinen Bewegungen, die unbeachteten Routinen, die stillen Krisen einer Familie, in der das Unwahrscheinliche immer einen Vertrag bekommt – und trotzdem eintritt.
Eine Sprache der Listen
Strukturell ist Lebensversicherung kein Roman im klassischen Sinn, sondern eine Montage aus Erinnerungen, Satzfragmenten, Szenen und Inventaren. Kapitelüberschriften wie „Was es in dem Dorf gibt“ oder „(Tragische) Vorfälle im Neubaugebiet“ geben dem Text eine Form, die wie beiläufig wirkt, aber exakt gesetzt ist. Die Sprache bleibt nüchtern, verzichtet auf Pathos. Aber gerade in ihrer Sachlichkeit liegt die Poesie: Wenn Bachs Erzählerin das Neubaugebiet beschreibt, wird aus der Aneinanderreihung von Haustypen und Schwimmbecken ein Mikrokosmos deutscher Mittelschichtsträume – samt Unsichtbarkeiten und Verstummungen.
Diese Listentechnik erinnert an Judith Hermann, an Wolfgang Herrndorf, stellenweise auch an Rainald Goetz – nur ohne die Wut. Bach schreibt mit stiller Hartnäckigkeit gegen die Behauptung an, dass man alles regeln könne. Sie erzählt von Menschen, die vorbereitet sind. Und davon, wie unvorbereitet man bleibt, wenn etwas passiert.
Provinz, reguliert
Besonders eindrücklich sind die Szenen, in denen das Berufliche ins Private kippt. Wenn der Vater fragt, nach was seine Hände riechen – Krankenhaus links, Friedhof rechts. Wenn die Mutter morgens vor der Arbeit Obduktionsberichte liest und dazu einen Apfel isst. Wenn Versicherungsfälle neben der Fernsehserie „Forsthaus Falkenau“ sortiert werden. Das ist lakonisch erzählt, ohne Spott, aber mit einer klugen Milieukenntnis.
Bachs Blick auf die Provinz ist liebevoll, aber nicht verklärt. Sie beschreibt ein Dorf, in dem jeder jeden kennt, in dem die Todesursachen eine Form des Wissens sind, das über Telefonleitungen zirkuliert. In dem die Versicherungspolice genauso dazugehört wie der Gruß mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf dem Lenkrad. Es ist ein Dorf, das funktioniert – bis etwas passiert.
Psychogramm eines Systems
Für Leserinnen und Leser aus der Versicherungsbranche ist Lebensversicherung ein hochinteressanter Text. Nicht, weil er das Geschäft erklärt, sondern weil er seine emotionale Infrastruktur offenlegt. Versicherungen erscheinen hier nicht als Produkte, sondern als kulturelle Praxis: als Versuch, das Ungewisse greifbar zu machen, das Unfassbare berechenbar. Bach zeigt die doppelte Bewegung: Schutzbedürfnis und Kontrollwahn, Fürsorge und Flucht vor dem Realen.
Am Ende steht die Frage, die sich durch das ganze Buch zieht: Was lässt sich überhaupt absichern? Der Körper? Die Psyche? Das Kind im Kettcar? Die Katze der Nachbarin? Die Erinnerung? Vielleicht ist die stärkste Antwort, die der Roman gibt, dass er genau hinschaut – ohne zu bewerten, aber auch ohne sich zurückzuziehen.
Lesenswert
Kathrin Bachs Lebensversicherung ist ein außergewöhnliches Debüt. Es erzählt leise, aber mit Nachdruck. Es montiert Alltagsbeobachtung und Formularkultur zu einer Erzählung über Angst, Familie, Sprache und das Verhältnis zur eigenen Verletzlichkeit. Die Autorin findet eine eigene Form – zwischen Liste und Lyrik, Protokoll und Poesie. Was bleibt, ist das Gefühl, etwas gelesen zu haben, das wichtig ist, ohne sich wichtig zu machen.
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