Ulf Poschardts Shitbürgertum hat sich als eines der polarisierendsten Werke der letzten Jahre etabliert. Nach der Absage durch den zu Klampen! Verlag aufgrund des als zu polemisch empfundenen Stils, fand Poschardt mit dem Westend Verlag schnell einen neuen Partner für die erweiterte Ausgabe seines Buches. Diese erscheint nun am 22. April 2025 und sorgt weiterhin für hitzige Diskussionen. Doch was den Erfolg des Buches wirklich unterstreicht, sind die Verkaufszahlen: Über Amazon veröffentlichte Poschardt das Buch eigenständig und verkaufte damit in kurzer Zeit rund 40.000 Exemplare. Der Titel war konstant unter den Top-Titeln gelistet, was ihn nicht nur zu einem Bestseller im Selbstverlag machte, sondern auch zeigte, dass das Buch mehr als nur ein mediales Aufsehen erregt – es hat eine breite Leserschaft gefunden.
Worum gehts?
Das Werk versteht sich als Essay, Kulturkritik und persönliche Abrechnung. Im Zentrum steht die Figur des „Shitbürgers“, die Poschardt als Repräsentanten einer gesellschaftlichen Elite entwirft, die zwischen moralischer Überheblichkeit und opportunistischem Eigeninteresse changiert. Dabei verwendet er eine drastische und oftmals übertriebene Bildsprache, die den Leser immer wieder herausfordert. Begriffe wie „sadistisches Freakland“ oder „moralisches Mischpult: DJ Böll“ zeichnen ein scharf umrissenes Bild dieser selbstgefälligen Elite. Doch es ist genau diese rhetorische Wucht, die das Buch lebendig macht – auch wenn die wiederholte Zuspitzung der Themen manchmal ins Groteske abdriftet.
Poschardt selbst hat ein rhetorisches Schlachtfeld erschaffen, das den Leser nicht nur zum Schmunzeln bringt, sondern auch zum Nachdenken zwingt. Dabei ist der Stil unnachgiebig: Wer von einem klar strukturierten Essay oder einer sachlichen Analyse erwartet, wird enttäuscht. Die Mischung aus polemischer Attacke und kulturhistorischem Kommentar ist fragmentarisch, aber gerade diese Sprunghaftigkeit sorgt für Dynamik. In einer Zeit, in der viele Werke zunehmend homogenisiert und glattpoliert erscheinen, hebt sich Shitbürgertum genau durch seine Unberechenbarkeit ab.
Kritik und Wirkung
Die Reaktionen auf das Buch sind, wie erwartet, extrem polarisiert. Besonders von linker Seite wird Poschardt vorgeworfen, in seinen Angriffen auf die „Nachkriegskultur“ und ihre Protagonisten – wie etwa Günter Grass, Walter Jens und Heinrich Böll – zu pauschalisieren. Grass wird fast ausschließlich auf seine Waffen-SS-Mitgliedschaft reduziert, Böll als „moralischer Kitschier“ abgetan. Doch auch wenn diese Übertreibungen die Komplexität der Biografien dieser Persönlichkeiten vernachlässigen, gelingt es Poschardt, einen Nerv zu treffen. Besonders seine Kritik an der „gesäuberten Hochkultur“ und den Mechanismen hinter Triggerwarnungen und politisch korrektem Diskurs hat Resonanz erzeugt.
In einem besonders hervorstechenden Kapitel, „Die Lauch-Bourgeoisie“, nimmt Poschardt eine gesellschaftliche Schicht aufs Korn, die sich durch Opportunismus und moralische Selbstinszenierung auszeichnet. Mit scharfsinniger Ironie beschreibt er diese Gruppe, die sich oft durch äußerliche Werte wie vegane Bowl-Bars und „bunte Kostüme, weiße Turnschuhe“ definiert. Dieses Kapitel hebt sich sowohl sprachlich als auch inhaltlich von anderen Abschnitten des Buches ab und bietet eine präzise, fast feinsinnige Analyse – ein Highlight des Buches.
Die menschliche Seite der Polemik
Trotz der scharfen Polemik gibt es in Shitbürgertum auch erstaunlich menschliche Momente. Besonders im Kapitel „Selbsttherapie“ zeigt Poschardt eine versöhnliche Seite. Hier schlägt er vor, dass das „Shitbürgertum“ sich selbst therapieren solle, indem es lernt, mit den eigenen Widersprüchen zu leben und Verantwortung zu übernehmen. Diese Passage ist idealistisch, ja fast ironisch, und hebt sich durch ihren sanften Ton deutlich von der sonstigen Schärfe ab. Poschardt schlägt damit einen Weg vor, der die Gescholtenen in ihrem moralischen Selbstverständnis hinterfragen soll – ein Hoffnungsschimmer in einem ansonsten zynischen Werk.
Verkaufszahlen geben ihm recht
Dass Poschardt mit seinem provokanten Stil den Nerv der Zeit trifft, zeigen nicht nur die zahlreichen Reaktionen, sondern vor allem die Verkaufszahlen. Über Amazon hat das Buch inzwischen rund 40.000 Exemplare verkauft – eine Zahl, die für sich spricht. Shitbürgertum ist ununterbrochen unter den Top-Titeln des Online-Händlers gelistet. Die breite Akzeptanz in der Gesellschaft, trotz der heftigen Kritik vonseiten der etablierten Medien, bestätigt Poschardts Vermutung, dass ein Werk wie dieses, das polarisiert und zu Positionierungen zwingt, im richtigen Moment zur rechten Diskussion führt. Die Verkaufszahlen geben ihm nicht nur recht, sie zeigen auch, dass seine Provokation auf ein Publikum trifft, das sich nach einer anderen Form der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung sehnt – weg von glatten Kompromissen und hin zu einer direkten, ungeschönten Debatte.
Ein polarisierendes Werk
Shitbürgertum ist ohne Frage kein Werk, das sich leicht konsumieren lässt. Es fordert den Leser heraus, zu widersprechen, zu hinterfragen und Stellung zu beziehen. Der Stil ist ebenso kraftvoll wie manchmal überladen, aber genau diese Mischung macht das Buch so einzigartig und schwer fassbar. Trotz aller Schwächen hat Poschardt mit seinem Werk einen Platz in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte eingenommen. Es ist ein Buch, das nicht erklärt, sondern provoziert, und das ist genau der Punkt, den Poschardt mit seinem „Shitbürger“ erreichen wollte. Wer bereit ist, sich auf diesen Stil einzulassen, wird nicht nur irritiert, sondern auch inspiriert. Und diese Wirkung ist der wahre Erfolg des Buches.
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