Die Katastrophe

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Das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen. In diesem Jahr war das Weihnachtfest wieder besonders schön. Erich sagte: "Sieh nur, Heini, wie die Augen des Kleinen strahlen! Mir wird direkt warm ums Herz." "Ja", sagte Heini, "ihr verwöhnt ihn ja auch ganz schön." Vater war ein bisschen traurig. Seine Stimme klang heute ganz anders. Später dachten wir oft darüber nach, ob er wohl etwas ahnte. Er war doch sonst immer der Verrückteste. Silvester waren wir alle platt. Vater ging schon um neun Uhr ins Bett. Als wir um zwölf mit ihm anstoßen wollten, sagte er: "Bitte, Kinder, lasst mich schlafen! Seid nicht böse." Ich küsste ihn: "Päpsken, nur einen ganz kleinen Schluck." Da trank er mir zuliebe mit. Mutter meinte: "Er wird doch nicht krank werden. Er trinkt doch sonst so gerne einen." Alle im Haus prosteten sich zu. "Frau Hake, wo ist denn Ihr Mann? Er ist doch nicht krank?" "Nein, er fühlt sich nicht gut." Zu Neujahr war Vater wieder als Erster auf. Zuerst fütterte er seine Tauben. Er hatte eine Fußbank auf dem Taubenschlag, da saß er eine geschlagene Stunde und beobachtete seine Lieblinge. Dann schälte er die Kartoffeln, holte Kohl rauf und stocherte den Herd, bis die Platte rot war. Es sollte doch schön warm sein. Mutter und wir schliefen sonntags gerne ein bisschen länger. "Na, ihr Schlafmützen, jetzt wird es aber Zeit, sonst können wir gleich zu Mittag essen", rief er. Da wurden wir flink. Ich fragte noch: "Du treulose Tomate hast uns schön sitzenlassen gestern Abend. Du weißt doch, ohne dich gibt’s keine Stimmung." "Ach, Kind, ich war nicht in Form. Macht euch nichts daraus. Heute werde ich euch dafür verwöhnen. Oh Gott, nächste Woche wirst du schon zwanzig, Hilde. Das wird aber gefeiert! Dann bin ich wieder fit. Wo sind die Jahre nur geblieben?" Wir Jungen gingen am Abend tanzen. Da waren die beiden froh, dass sie mal alleine waren. Erich und Rudi gingen zeitig ins Bett. Mutter war immer froh, wenn die Feiertage wieder um waren und alles seinen normalen Gang verlief. Jetzt waren wir schon sechs Personen, mit meinem Freund sieben. Aber er war ja nur am Samstag und Sonntag da. Die Wohnung war auch nicht allzu groß. Ich freute mich schon auf meinen Geburtstag. Da wurde ich so richtig verwöhnt. Morgens musste ich erst zur Arbeit. Vater hatte Mittagsschicht, aber er war schon ganz früh aufgestanden und hatte das Frühstück für mich gemacht. Er war der Erste, der mir gratulierte. "Mein Mädel, zwanzig Jahre! Wie schnell doch die Zeit vergeht!" "Oh, Paps, wie schade, dass du nicht mitfeiern kannst." "Das holen wir nach, mein Mädel. Aber zur Vorsicht esse ich jetzt schon ein Stück Kuchen, sonst kriege ich vielleicht keinen mehr ab." "Vater, da kennst du mich aber schlecht. Zuerst lege ich etwas für dich zurück." Wir unterhielten uns noch eine ganze Zeit lang. Dann sagte er laut, dass alle wach wurden: "Hilde hat Geburtstag!" Da sprangen sie aus ihren Betten. Selbst unser kleiner Rudi krähte. Der Tag fing ja gut an. Ich wäre bald zu spät zur Arbeit gekommen, schaffte es gerade noch so. Mittags nach dem Essen konnte ich nach Hause gehen. Das war ein Geburtstag! Erich spielte Mundharmonika. Wir tanzten und jauchzten, sodass uns die Füße brannten. Mutter war so lustig wie lange nicht mehr. Tante Anna schlug immer wieder die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: "Lisbeth, du bist gar nicht wiederzuerkennen. Deinem Heinrich wird doch nichts passieren." "Oh, Anna, mal bloß nicht den Teufel an die Wand!" Von da an war Mutters Stimmung hin. Es wurde Abendbrot gegessen und noch ein Gläschen getrunken. Dann verabschiedete sich der Besuch. Es war schon fast zehn. Mutter sagte: "Hilde, geh du auch ins Bett." "Ach, ich möchte warten, bis Vater kommt." "Nein, es wird zu spät für dich, mein Mädel, du musst morgen früh aus den Federn." "Dann gute Nacht." Ich gab ihr noch einen herzhaften Kuss. "Das war für die schönen Geschenke und für den schönen Tag."



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