Ping-Pong Seite 2

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Jetzt, im November, sind sie dort alleine. Vor ihnen nur ein Panorama aus einzelnen Feldern und akkurat nebeneinander aufgereihten Solaranlagen, aus künstlich angelegten Baumgruppen und mit grauen Planen eingepackten Gewächshäusern. Davor ein Fluss, zu dieser Jahreszeit vielmehr ein bräunlich-grauer, zähfließender Rinnsal. Rebecca setzt sich auf das morsche Geländer und stochert auf der feuchten Rinde herum, später auf der Rückfahrt wird sie die Reste des morschen Holzes zwischen ihren roten Fingernägeln herauskratzen.

Er hat sich schon oft gefragt, ob Rebecca weiß, dass er auf sie steht. Sie lässt sich auf jeden Fall nichts anmerken. Vielleicht sucht sie zwischen ihren verstaubten Requisiten nach ein wenig Nervenkitzel, nach einer unerwarteten Wendung, einen Point of no Return. Vielleicht spielt sie nur mit ihm. Mit Sicherheit spielt sie. Hinter der Absperrung der Aussichtsplattform geht es steil nach unten. Es nervt ihn, dass sie unbedingt auf dem rutschigen Geländer sitzen muss. Er hält sie fest, sie lacht ihn aus. Schlägt ihn wie eine nervige Fliege von sich weg und streckt die Arme nach oben. Er verdreht die Augen, kommt wieder einen Schritt näher.

„Schau mich an, ich bin die Königin der Welt.“

„Ha ha Titanic, wie einfallsreich. Die Königin von der Agrarwüste, vielleicht.“

„Sei einmal wild.“

„Bei mir geht es auf jeden Fall wilder zu als bei dir.“

„Na schön, bitte definieren Sie »wilder«.“

„Naja, zumindest gibt es bei mir mehr Nervenkitzel als die Frage, wer wohl heute Abend das Fernsehprogramm aussuchen darf.“

„Da hast du natürlich völlig recht, denn bei dir ist jede Verabredung Nervenkitzel. Und zwar Nervenkitzel für die anderen, ob du wirklich kommst oder doch noch kurz vorher absagst, so wie gestern. Der Master of Suspense.”

„Ich musste gestern wirklich noch meinen Essay fertig schreiben. Nicht alle von uns können am Freitag um Punkt zwölf den Stift fallen lassen.”

„Der war zu fies.“

Heute spielen sie wieder Ping-Pong. Sie schlagen gegenseitig sarkastische Bemerkungen hin und her, bis einer genervt, beleidigt oder gekränkt aufgibt. Mittlerweile weiß er genau, was er sagen muss, damit sie nach nur wenigen Runden K. o. geht. Auch heute gewinnt er den Schlagabtausch, er merkt es an ihrem Schweigen. Er weiß, sie hasst es, wenn er sie als langweilig und festgefahren abstempelt. Er weiß, sie hat Angst davor, etwas zu verpassen. Sie weiß nicht, dass sie eigentlich das hat, was er sich am sehnlichsten wünscht. Ein sicheres Zuhause – in Form eines anderen Menschen.

Rebecca hatte sich in den letzten Jahren eine sichere Kulisse konstruiert, in der sie sich innerhalb selbst abgesteckter Grenzen so frei wie möglich austoben konnte: Sie träumt von einem Leben im Ausland, würde aber niemals für immer ihre Koffer packen. Eigentlich möchte sie gerne noch einmal studieren und belegt deswegen einen Online-Kurs, dem sie abends nach der Arbeit sporadisch nachgeht – gerade regelmäßig genug, um anderen Leuten davon erzählen zu können. Doch niemals würde sie ihren sicheren Job bei der Bank mit dem 13. Monatsgehalt aufgeben, weder für ein unbekanntes Leben im Ausland noch für ein unbezahltes Studium. Eine kontrollierte Freiheit, ein stetiges Kollidieren der Idealvorstellung von sich selbst und ihren elementaren Bedürfnissen nach Sicherheit und Beständigkeit.

Rebecca dreht sich um, springt von ihrem morschen Sitzplatz hinunter und lehnt sich neben ihn ans Geländer. Sie tragen beide lange, schwarze Mäntel. Er muss lächeln, denn sie könnten auch zwei Mafiosi sein, die sich an diesem abgeschiedenen Ort im Nebel treffen, um belastendes Beweismaterial oder sogar ein paar Leichen verschwinden zu lassen. Es gibt einen unausgesprochenen Deal zwischen ihnen, Schweigepflicht gehört zum Ehrenkodex. Er spricht seine Gefühle nicht aus und sie tut so, als würde sie nichts merken. Und so verweilen sie in einer Schattenwelt, bleiben in einer undefinierbaren Grauzone stecken. Irgendwann wird er sein Interesse an ihr verlieren, das weiß sie. Irgendwann wird er merken, dass es bei ihr nichts zu holen gibt. Und irgendwann wird der Kontakt nachlassen, er wird sie seltener zu spontanen Ausflügen abholen, ihr nur noch sporadisch schreiben. Das Ping-Pong wird fairer ablaufen, irgendwann werden sie wahrscheinlich gar nicht mehr spielen.

Nieselregen setzt ein. Die kalte Luft überfordert ihn, der graue Novemberhimmel wirkt schwer und erdrückend. Er dachte, rausgehen würde sich gut anfühlen. Davon schwärmen doch immer alle und kaufen sich Funktionskleidung von North Face und Patagonia. Wandern los, für alle Eventualitäten des Lebens gerüstet. Bleiben stehen, für eine Pause, vielleicht um ein Erinnerungsfoto zu machen. Doch Georg möchte nicht mehr auf der Durchreise sein, immer auf dem Weg zur nächsten Zwischenstation.

„Ich glaub, es ist Zeit, dass du mich wieder nach Hause bringst. Ich brauch’ heute noch ein bisschen „Me-Time“, bevor morgen wieder das Chaos in der Bank weitergeht.“

„Me-Time“ bedeutet eigentlich „Date-Night“, das weiß er genau, doch Georg hat keine Lust, eine neue Runde Ping-Pong zu spielen. Stattdessen presst er seine Lippen zusammen, verpackt all das Nichtgesagte und Nichtgetane in einen Beutel, befestigt schwere Steine daran und schmeißt ihn in die Untiefen des Tümpels vor ihnen. Und die zwei Mafiosi stapfen schweigend durch den Matsch in Richtung Auto, während er sich vorstellt, wie das Paket mit seinen fiktiven Erinnerungen von der stillen Dunkelheit des trüben Gewässers verschlungen wird.

Nach einer Stunde Autofahrt parken sie wieder vor Rebeccas Haustüre. Ihr Freund schaut aus dem Küchenfenster, als hätte er sie bereits erwartet, steht kurz darauf vor der Haustür und winkt ihnen zu. Sie lächelt Georg flüchtig an, umarmt ihn noch flüchtiger und steigt schnell aus dem Auto. Er fährt los, zurück über den Schleichweg, in zehn Minuten ist er endlich wieder Zuhause. Er schmeißt seine matschigen neuen Schuhe in die Ecke, macht den Fernseher an und wünscht sich, jemand anderes würde heute Abend für ihn das Programm bestimmen. In ein paar Monaten will er wieder zu diesem Aussichtspunkt fahren. Wenn die Sonne scheint, der Tag warm und hell ist und die Berge hinter der Feldlandschaft zu erkennen sind. Ohne Nieselregen, ohne Rebecca, ohne Ping-Pong.


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