Ping-Pong

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[...] Das sei die Idee, mit der er herumspiele, sagt Renzo, ein Essay über die Dinge, die nicht geschehen, die nicht gelebten Leben, die nicht geführten Kriege, die Schattenwelten, die parallel zu der Welt laufen, die wir als die reale akzeptieren, das nicht Gesagte und nicht Getane, das nicht Erinnerte. Riskantes Terrain, mag sein, aber es könnte sich lohnen, dort zu forschen. [...] Paul Auster, Sunset Park, 2010


Schmieriger Matsch und gelbes Laub kleben an seinen neuen Turnschuhen. Bevor er später die Wohnung betritt, muss er sie unbedingt vor der Haustür richtig ausklopfen, den Dreck aus den Rillen ihrer Sohlen kratzen und sie in der Badewanne gründlich mit warmem Wasser auswaschen. Wer hatte eigentlich die sinnvolle Idee, an so einem neblig-nasskalten Tag im November zu einem Aussichtspunkt zu fahren?

Ach ja, er selbst.

Zuvor hatte er den ganzen Tag auf der Couch verbracht, versucht zu lesen, einen Film anzuschauen, sich von sich selbst und seinem schweren Kopf abzulenken. Nichts davon hat geholfen, nicht ein bisschen. Am Ende fixierte er wieder das verheißungsvoll leuchtende Display seines Handys, in der Hoffnung, seine Gedanken würden ihn endlich loslassen. Nur für ein paar Minuten, wenigstens. Doch vergebens. Ein Strudel aus grellen Bildern zog ihn hinab zu toxischen Vergleichen zwischen sich selbst und den anderen da draußen. Doch er wollte diesen Gedanken heute keine Aufmerksamkeit mehr schenken, sich nicht mehr von ihrem Sog in die Tiefe ziehen lassen. Er musste raus.

Deswegen schrieb er ihr, wem sonst. Deswegen stieg er kurze Zeit später in seinen orangefarbenen VW Golf, fuhr los, über einen Schleichweg, es dauerte gerade einmal zehn Minuten, die Strecke kannte er auswendig. Und deswegen blieb er vor dem terrakottafarbenen Haus ihrer Eltern in der gepflasterten Einfahrt stehen, wo sie seit ein paar Monaten gemeinsam mit ihrem Freund in der ausgebauten Dachgeschosswohnung lebte. Durch ein kurzes Hupen machte er auf seine Ankunft aufmerksam und wartete ab, in der Hoffnung, nicht aussteigen und an der Türe klingeln zu müssen. Sie blickte aus ihrem Küchenfenster, winkte ihm zu, öffnete kurz darauf ihre Haustür, dann seine Autotür, stieg schnell hinein. Sie umarmten sich flüchtig und fuhren sofort los, hinaus aus dem Ortskern, vorbei an Gewerbegebieten mit riesigen Supermärkten und leeren Parkplätzen, vorbei an unbelebten Dorfplätzen mit stillgelegten Brunnen und während des Winters geschlossenen Eisdielen.Nach einer Stunde sind Rebecca und Georg endlich bei diesem Aussichtspunkt angekommen und blicken auf eine karge Agrarlandschaft. Dieser Platz zählt zu den Highlights ihres Landkreises. Es heißt, bei gutem Wetter kann man von hier aus die Berge sehen. Im Sommer pausieren hier tagsüber Wandernde und Radfahrende in Funktionskleidung, die auf der Durchreise sind. An warmen Abenden treffen sich hier die gelangweilten Jugendlichen zum Rummachen, Rauchen oder Trinken. Zumindest lassen ihn die zerschlagenen Bierflaschen und Kippenstummel im gelb- grünen Gras darauf schließen.


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