Wie kann man nur so wenig Empathie haben? Seite 2

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Eine berühmte Regisseurin ist gestern Abend mit Ende achtzig in ihrem Schlaf verstorben und ein amerikanisches Promipaar lässt sich nun nach mehrfachen Trennungen endgültig scheiden. Meine Zunge fühlt sich immer noch rau an. Es ist jetzt 7:57 Uhr und ich werde es niemals rechtzeitig schaffen. Scheiß U-Bahn. Warum hat sie kein Mitleid mit mir und fährt schneller? Mir gegenüber sitzt eine Frau mit einem kleinen schreienden Kind auf dem Schoß. Ihre Haare sind in einem fettigen, buckligen Zopf zusammengebunden. Ihre Augenlieder hängen schwer und ihre Jacke ist zu dünn für diese Jahreszeit. Das Gesicht des Kindes ist rot und verzerrt, Schnodder läuft ihm aus der Nase. Die Frau wiegt das Kind in einer lieblosen, mechanischen Bewegung auf und ab. Das Kind tritt gegen ihre Beine und ringt kurz nach Atem, bevor es mit frischer Luft in der Lunge lauter weint als zuvor. Ich taste in meiner Jackentasche nach meinen geräuschunterdrückenden Kopfhörern. Eine rot blinkende Lampe zeigt an, dass der Akku leer ist. Scheiß Kopfhörer. Warum ausgerechnet jetzt? Die Frau trägt nicht nur ein feindseliges Kind in ihren Armen, sondern auch in ihrem Leib. Der enorme Bauch ragt unnatürlich aus ihrem dürren Körper. Es ist, als hätte sich in der Mitte ihres Körpers nicht nur ein Säugling eingenistet, sondern auch das ganze Leben ihres restlichen Körpers gesammelt. Als hätte das Embryo seine Mutter ausgesaugt, um es sich möglichst bequem zu machen. Bewirtete die Frau ein Kind oder ein Parasit? Ich setze mich ein paar Reihen weiter an einen leeren Platz, um den Lärm nicht mehr in dieser Intensität ertragen zu müssen. Es ist 8:05 Uhr. Die Bahn hält wieder an einer Station und ich weiß, dass ich bald an meinem Ziel angekommen bin. Ein leichter, aber aggressiver Geruchsschwall dämpft meine kurzzeitige Euphorie. Gefolgt von einem Gestank nach Bier, Urin und etwas Verfaultem schwankt ein Obdachloser in die Bahn. In seiner linken krallenartigen Hand schleift er eine zerlöcherte, rosa Plastiktüte mit sich rum. Die andere umfasst einen To-Go-Becher, wie ich ihn auch brühend heiß in meinen Händen halte. Seiner krächzenden Kehle entgleiten monotone Sätze. Er sei seit mehreren Jahren Obdachlos, habe keinen Ort zum Schlafen, kein Essen. Jede kleine Spende würde helfen. Seine Augen sind trüb und ausdruckslos, wie die eines toten Fisches, welcher auf Eis gebettet darauf wartet, verzehrt zu werden. Ich esse nur filetierten Fisch. Der Mund des Mannes bewegt sich, aber sein Ausdruck verrät komplette Abwesenheit. Dann schwankt er mit schwerem Gang und gesenktem Kopf durch den Wagon. Die Fahrgäste schauen auf ihr Handy, gucken an ihm vorbei oder durch ihn hindurch. Er bleibt vor einem Mann mit Glatze stehen, der macht eine schnelle Handbewegung, als würde er eine lästige Fliege wegscheuchen wollen. Mit trägen Schritten läuft der Obdachlose nun zu mir. Er verharrt kurz, dreht den Körper wenige Zentimeter in meine Richtung und neigt den leeren Becher. Ich erinnere mich an das Wechselgeld in meiner linken Hosentasche. Kann dieser schreckliche Geruch an mir haften bleiben? Warum ich? Warum muss der in diesen Wagon steigen? Dann ist der Obdachlose schon vorbeigegangen und ich merke erleichtert, dass ich an meiner Station angekommen bin.


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