Ein gedanklicher Monolog

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Tanzende Schatten ergossen sich über den grobkörnige Asphalt gleich dunkel zerfließendem Wein. Irgendwo wurde ein Knallen laut, das Fallen eines Steines in die Welt hinausrufend; ein überflüssiger Klang in paranoide Ohren gehaucht. Seine Augen verfingen sich in der labyrinthenen Kaskade aus leeren Fenstern, Türen, Treppen und Toren, seine Gedanken zappelten im Netz der Sensationen des Tages. Die Nacht trank gierig die matte Milch der Straßenlaternen. Er wollte schreien, aber die hässliche Stille drückte ihm ihre grobe Pranke auf den Mund. Es war zu Ende.

„Wo war das Wort?“

Der Pastor sah ihn verdutzt an.

„Wo war das Wort?“, wiederholte er, bittend, flehend wie beim ersten Mal. „Das Erste, der Anfang - War es das Wort?“

„Mein Sohn...“

„Wo war es?... War es geschrieben? Gesprochen? Gedacht? War es im Raum? War es ein Laut?“

„Ich verstehe deine Frage nicht ganz... Das Wort war der Anfang.“

Er sah den Pastor traurig an.

„Der Anfang?“

„Nicht alle Bilder des Allmächtigen lösen sich nach den Rechnungen der Menschen auf.“

„Ist das also Religion? Grenzen anzuerkennen in Räumen, die nur in mir existieren, weil ich glaube? Das Einsperren in einen Käfig, weil man eingesperrt werden will?“

„Ich verstehe deine Zweifel, aber du musst daran glauben, dass er...“

„Ich brauche ihre Antworten nicht“, stellte er fest. „Sie sagen etwas, ohne mich zu verstehen. Als würde man zu einem Kinderarzt gehen, weil das Kind schreit und dieser würde antworten, man solle sich Ohrenstöpsel kaufen. Wo ist das Wort? Ist es vor dem Gedanken? In dem Gedanken? Ist es der Gedanke? Vielleicht ist das erste Wort gedankenlos...“

Der Pastor sah ihn verständnislos an.

„Eine gedankenlos erschaffene Welt. Wie fänden Sie das?“

Soviel gab es für ihn in diesen heiligen Mauern einst zu entdecken, so schwer fiel nun die Bedeutungslosigkeit seines Lebens auf ihn nieder.

Die Kirche war noch offen.

Kein Licht schien hinein, kein Licht schien heraus. Er erklomm mit seinen Blicken die grausame Fassade. Oben schlug der gusseiserne Schlägel immer wieder an sein Gehäuse.

Was blieb danach? Asche und Staub? War die einzige Währung der Moment, der Eine, der Augenblick, das Sandkorn am untergehenden Strand des Lebens? Und wo war jener Moment, der keine Verbindung zum Nächsten, zum Vorherigen aufwies, der die Zukunft nicht veränderte und nicht von der Vergangenheit erworben war?

Die Linien seiner Hände sahen im Schwarzblau der Nacht aus wie expressionistisch skizzierte Spinnennetze. Er hatte mit ihnen viel gehalten, einiges erbaut und wenig geruht. Am Tage noch hatte er Kirchenbänke getragen, Getränke ausgeschenkt, die Bibel und ein Gesangbuch gehalten. Vielleicht hatte er zu viel getrunken, zu wenig geschlafen oder irgendetwas illegales konsumiert, aber er konnte all das nicht einmal für möglich halten. Sein Geist, der ihn so viele Jahre durch die wirren Meinungen der Gesellschaft geführt hatte, war ein einziges Mal abgebogen und sofort an eine Mauer gelangt. Er hätte zufrieden sein können mit seiner Arbeit, mit seinen Freunden, mit seinem Glauben, mit seinem Denken... Er hätte zufrieden sein sollen! Was verbesserte seine Erkenntnis? Was brachte ihm sein Atheismus? Die Religion hätte ihn gleich einem Narkotikum bis zum Dahinscheiden betäubt. Wie hieß es doch so schön: Religion ist, wenn man trotzdem stirbt. Jetzt war sein Leben ein offenes Geschwür und der Tod eine Qual, die außerhalb jeglicher Schmerzskala lag.

Es dämmerte. Verdünntes Licht traute sich schüchtern über den Himmel. Er saß auf einem Kantstein. Zwischen seinen Knien sah er ein Rinnsal Regenwasser ein paar gelb gefärbte Blätter zum Gulli tragen. Kälte kroch in seinen Kragen. Die Bäckereien öffneten, Menschen betraten verschlafen die Bürgersteige. Er lächelte. Vielleicht ist es das, dachte er, vielleicht ist es nur der Gedanke.

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