Sorry, Fans: Beim "neuen Murakami" blättert man bedeutend träger um als beim Vorgänger. Vielleicht liegt´s am Helden?
Ein Teil des Vergnügens beim Erscheinen neuer Romane von Haruki Murakami ist nicht die Lektüre selbst, sondern die energischen Pro- und Contra-Debatten der Literaturkritiker im Feuilleton. Während Sie bis zur Inhaltsleere vergeistigte (aber teils wunderschön formulierte!) Rezensionen wie immer auf Perlentaucher zusammengefasst finden, befassen wir uns mit der rein unterhaltungsorientierten Frage: Macht der neue Murakami überhaupt Spaß?
Während der Leser in 1Q84 mit der geheimnisvollen Anomane startet und sich mit ihr aus einem Tokioter Taxi heraus zu Fuß durch den Stau zu ihrem finsteren Handwerk aufmacht, ist Herr Tazaki schlicht ein Langweiler.
Gut 150 Seiten tut unser Held wenig, außer über die jäh zerbrochene Freundschaft zu seinen vier Schulfreunden zu philosophieren und sich an der daraus folgenden Todessehnsucht zu weiden. Die zwei Frauen und zwei Männer wollen plötzlich nichts mehr mit ihm zu tun haben und lassen sich verleugnen. Wenn Tsukuru Tazaki sie doch selbst anspricht, dann müsse er "den Grund doch selbst wissen". Aufgepasst, Symbolwert: Tazakis Nachname ist der einzige unter den Freunden ohne einen Farbbezug!
Das ist vom Ansatz eine nette Idee, doch Tsukuru Taziki hat keinen weiteren Antrieb, den Grund zu hinterfragen. Wir haben es vom Archetypen her nämlich mit einem Eremiten zu tun. So blättert sich der Leser durch Selbstreflektionen, erotische Phantasien und Beschreibungen banaler Alltagsabläufe, bis der Held sich nach 16 Jahren endlich doch dazu entschließt, den Grund für den Bruch der Freundschaft zu erfahren. Natürlich: Der Autor nutzt den Erzählraum, um dem Herrn Tazaki durchaus mehr Farben zu geben. Aber weder vom Dialog her, noch von der oft nüchternen Beschreibung von Szenen kommt Spannung auf.
Mithin ist der Grund für den Bruch zwischen den Freunden zunächst unfassbar entsetzlich und lässt auf eine wahrhaft dramatische Wendung hoffen. Der Mord ausgerechnet an einer Schlüsselfigur wird nur erwähnt, aber überhaupt nicht aufgegriffen. Die Lösung der Geschichte ist leider zudem recht banal und schrammt an einem Deus ex Machina vorbei.
Fazit: Ich habe mich nach 1Q84 zum Murakami-Jünger erklärt. Die Lektüre der Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki zerrt jedoch gut die Hälfte des Buches an den Nerven. Tazaki ist nun einmal ex definitione ein selbstreflektierender Langweiler. Dieses Wesen exponiert der Autor fast 120 Seiten lang, bis ein wenig Spannung aufkommt. Mithin mangelt es an den von Murakami in 1Q84 so gekonnt eingesetzten Stimmungsbildern und geradezu mystischen Hinweisen, die etwa die kurze Eröffnungsszene, in der Anomane im Taxi im Stau festhängt und sich zum Aussteigen entschließt.
Die Sprache wirkt gewollt parabelhaft - gelegentlich warf ich einen Blick in 1Q84, um mich zu vergewissern, dass wir vom selben Schriftsteller sprechen. Für mich ist das so ohne weiteres gar nicht erkennbar.
Die Lösung, warum der farblose Herr Tazaki von seinen Freunden verstoßen wurde, ist hingegen derart aus dem Hut gezaubert, dass ich fast geneigt bin, sie aus reiner Bosheit preiszugeben. Kein Vergleich zu den sich langsam entblätternden Geheimnissen in 1Q84. Freilich ist der Plot auch nicht vergleichbar mit den verwirrenden Wendungen etwa in den Handlungssträngen norwegischer Autoren. Über weite Strecken bleibt Herr Tazaki farblos.
Für wen eignet sich´s? Fans werden es aus reiner Treue zum Meister genießen und ihm Zeit geben, dem zu Beginn so farblosen Herrn Tazaki im Laufe der ersten Kapitel Nuancen zu verleihen. Einsteigern sei 1Q84 eher empfohlen.
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