Wirre Notizen zur “goldenen Mitte”

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Heute lästern wir zur Abwechslung mal über die Unentschiedenen – manchmal sogar vermeintlich Unpolitischen – unter uns, die die binären Links-Rechts-Schubladen ablehnen und sich als Freidenker unter Radikalen präsentieren. Meist weil es ihnen nicht passt, wie unerhört frech deren Beschwerden doch klingen. Unberührt von jeglicher Überzeugung und unbeirrt von der Komplexität, die sie selbst zwar rechtens propagieren, aber zu untersuchen vergessen, “forschen” sie und “stellen die richtigen Fragen”. Fragen, deren Antworten belangloser nicht sein könnten. Vom Spektakel überfordert, doch umso mehr vom Ego angetrieben, springen diese Lemminge feuchtfröhlich von der Klippe. Mit sich reißen sie unsere Zukunft in die Tiefen des demagogischen Nährbodens, den sie mit ihren halbherzigen Lösungen allzu lethargisch düngen.

Gebrüstet mit Kompromissrhetorik und scheinbar ausgewogenen Nichtpositionen steht die zentristische Radikalenzia dem politischen Kompass moralisch überlegen entgegen. Mit einem Tonfall, der vermuten lässt, dass sie beim Rezitieren ihrer quasiprophetischen Positionen gewaltsam onanieren würden, präsentieren sie sich als die Erwachsenen im Raum. Als gäbe es um sie herum lediglich hasserfüllte Rechte und pubertierende Linke, phantasieren sie die vernunftstrunkene Katze zu sein, die die naiven Mäuse vom Tisch jagt. ORDNUNG BITTE! Fascism much?

Der Geschichtsunterricht der 10. Klasse scheint bei Ihnen Eindrücke hinterlassen zu haben, die polithistorisch bestenfalls vage sind. Diese Eindrücke werden allerdings mit einer Arroganz präsentiert, als hätte der Zentrist die Bücher selbst niedergeschrieben – noch lange bevor er sie so oberflächlich hätte studieren können. Der politische Frieden wird über alles gestellt. Dass Frieden und Unterdrückung vereinbar sind, ist eine Wahrheit, die der Zentrist aufgrund unangenehmer kognitiver Dissonanzen meidet. Denn dissonant ist das Gegenteil von harmonisch, und das mag der Zentrist ganz und gar nicht. Er will Demokratie non-konfrontativ ablaufen sehen, als wäre Demokratie nicht an sich schon die non-konfrontative Alternative dazu, jemanden einen Stein an den Kopf zu werfen. Am besten es sind sich alle von Anfang an einig.

Der “Compromise Effect” ist nicht sonderlich komplex und lässt sich ohne Einblicke in Psychologie oder Marktforschung herleiten. Wenn beispielsweise drei Weinflaschen für 5€, 10€ und 15€ angeboten werden und dem Kunden unzureichend Informationen über die Optionen vorliegen, dann wird meist die mittlere Option gewählt. Die Entscheidung beim Wein ist nicht sonderlich reich an Konsequenzen – auch wenn mir einige prätentiöse Weinliebhaber den Tod wünschen würden, für diese Aussage. In der Politik aber, und insbesondere in einer Demokratie, sind die Konsequenzen des Informationsmangels erheblich, wie Sokrates damals schon vermerkte (eine Erkenntnis, für dessen Verlautbarung er – nach demokratischer Abstimmung wohlbemerkt – hingerichtet wurde).

Eine pedante Sache, die mich nicht loslässt: Neutralität ist nicht Objektivität. Wir erfinden nicht nur Worte, damit wir sie jeglicher Bedeutung entleeren können. Der einzige Grund, warum Worte überhaupt existieren, ist deren Kodierung, die überhaupt dafür sorgt, dass wir “dieselbe Sprache sprechen”. Und ja, ich weiß, dass sich insbesondere politische Terminologien ständig ändern, weil die, bewusst oder auch unbewusst propagandistischen, Disanalogien des Diskurses politische Begriffe wie “Faschist”, “Kommunist”, “Sozialist” und – für masochistische Intellektuelle besonders empfohlen – “Anarchist” mittlerweile auf eine Unmenge an teilweise gegenseitig verhassten Ideologien übertragen. Aber Neutral und Objektiv zu unterscheiden, sollte noch machbar sein.

Neutral ist die Position, keine Position einzunehmen. Man ist unparteiisch. Objektiv ist die empirische Position. Es gibt einen enormen Unterschied dazwischen, neutral oder objektiv eine Vergewaltigung zu beobachten. Zwischen Lüge und Wahrheit, befindet sich immer noch eine Lüge. Was natürlich nuancierte Analysen eines komplexen Systems erfordert, doch die können nicht stattfinden, solange wir so tun, als müsste man für den Konsens jeden Irren befragen. 2014, aber auch kürzlicher, sahen wir Klimaleugner und Klimaaktivisten in einer vergifteten Dialektik als zwei Seiten einer Münze dargestellt, die beide es entweder wert sind, ernstgenommen zu werden oder auch beide gleich irre sein sollten. Die schöne alte Hufeisentheorie. Wie zwei Hälften eines Hufeisens eint das Zentrum die zwei Flügel des politischen Spektrums, die beide nur ein Spiegelbild voneinander sein sollen. Das Playboyheft unter dem Bett im Kinderzimmer der Zentristen.

Das ist die wohl faulste Intellektualisierung des Zentristen. Der Compromise Effect beschützt sein Ego und seine Selbstwahrnehmung, was sicherlich toll für den emotionalen Haushalt des Zentristen läuft, solange ihm keiner mit seinem geistigen Innenleben unvereinbare Kognitionen auf dem “Marktplatz der Ideen” anbietet. Man könnte gern Lacan’sche und Freud’sche Spekulationen dazu führen, warum dieses Phänomen so omnipräsent ist, aber das lass ich. Das einzige psychoanalytische Fitzel, das ich nicht unerwähnt lassen will, ist der neoliberale Individualismus und seine Auswirkungen. Der linke Individualismus und teilweise sogar der klassisch-liberale Individualismus sehen Kollektivismus vor, wenn es um quantitative Freiheit und um individuelle Entfaltung geht. Der Neoliberalismus sieht eine solche Kollektivierung als Konfiskation der Freiheit des Investors. Nichts mit utilitaristisch und systematisch, sondern bürokratisch beglaubigte, privatisierte Tyrannei. Individuelle Unterschiede sind in einem Kollektiv am produktivsten, durch “mutual aid” werden die Schwächen anderer ausgeglichen und ein interdependentes Ökosystem entsteht. Linke und Rechte haben die Wechselwirkung zwischen dem Detail und dem Ganzen längst verstanden. Der Faschist versteht seine Rolle im großen Ganzen anders als der vom Klassenkampf erschöpfte Sozialist, doch nichtsdestotrotz ähneln sie sich hier etwas. Der Zentrist schreit glückselig auf und wedelt eifrig mit seiner Hufeisentheorie. Doch was er als Ähnlichkeitsmerkmal von Linken und Rechten sieht, ist eine narzisstische Verzerrung seines Mankos. Sie ähneln sich in dem Sinne, dass sie beide etwas haben, dass dem Zentristen fehlt. Das Bewusstsein nämlich, dass etwas falsch läuft. Ihre Lösungen sind komplett anders konzipiert, aber sie bedeuten beide einen Umbruch oder – wie die Geier in Silicon Valley es verkaufen würden - eine “Disruption”.

Aber nicht hier. Der neoliberale Zentrist ist in seiner konsumeristischen Ideologie so verharrt, dass er sie als “menschliche Natur” wahrnimmt und somit wieder beim Sozialdarwinismus ankommt, den er mit einem leicht linken Aroma dekoriert, während er mit Vokabeln wie “Gerechtigkeit” um sich wirft, um das Monster, dass sie schaffen, bis zur Neuwahl kaschieren können. Freiheit schimpft sich das. Ihr seid frei, nichts anzufassen. Denn wenn ihr frei seid anzufassen, dann wird die Individualität des Geldgebers eingeschränkt. Morgen werde ich versuchen, einem Zentristen zu erklären, dass die Ampel seine Individualität einschränkt und ihn zu überreden versuchen, sie zu ignorieren und auf sein Herz zu hören. Vielleicht lösen wir ja so den Klimawandel – einen ökologischen Fußabdruck nach dem anderen.

Der Status Quo. Das ist das Zentrum. Das Overton-Fenster als politische Ideologie. Ob ideologisch verblendet oder schlichtweg korrupt, zentristische Politiker wurden schon immer von Leuten unterstützt, die im Status Quo profitieren. Ob ihre politischen Ansichten authentisch oder nur an den Geldern gebunden sind, ist hier nicht mal relevant. Was relevant ist, ist die Tatsache, dass sie daran klammern müssen oder sie riskieren persönliche Karrierebrüche. Der zentristische Wähler ist meist auch jemand, der ziemlich gut im aktuellen Geschehen klarkommt und glaubt, dass das Konzept für alle funktionieren kann. Diese elitäre Empathielosigkeit unter dem Mantel der Philanthropie und des Humanitarismus, ist die Perversion des Liberalismus, die heute als Neoliberalismus bekannt ist. Zusammen mit den kriegssüchtigen Neo-Konservativen bilden sie die Mitte.

Wirklich “goldig”, die Mitte


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