Kolumne Leipziger Lerche: Im Café Zuhören und glücklich sein

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Autorin Yvonne Kuschel schreibt über "Leipzig liest" und den besonderen Zauber eines einzigartigen Literatur-Events.

Café Grundmann in Leipzig Quelle: © yvonne kuschel

Auf dem Weg ins Café Grundmann überholte mich ein Skilangläufer. Fast rammte er mich, ich stellte mir schon vor, wie sich sein Stock in meiner Hose oder Jacke verfängt und er mich hinter sich herschleppt... Wie mein himmelblauer Daunenmantel aufreißt, weiße Federn rausquellen und in die Luft steigen... Aber natürlich ist nichts passiert, ich ging unversehrt weiter durch den Wald. Was für ein Luxus! Trotz geschlossener Schneedecke duftete es bereits an manchen Stellen stark nach Bärlauch.

Ich bin nicht auf die Buchmesse gefahren, aber vorgestern war ich dort, mit all den Anderen.

Und gestern am frühen Abend war ich noch mal im Café, eine Stunde vor einer Lesung. Alle Tische waren mit einem RESERVIERT-Schildchen geschmückt. Ich überraschte zwei sehr nette, mir gut bekannte Damen aus München, die ein letztes mal auf Leipziger Boden, in schöner Umgebung speisten. Es gab gebackenen Ziegenkäse auf Ruccolasalat mit Nüssen und Wiener Kalbsschnitzel, so groß, dass ich mich fragte, ob ich geschrumpft bin, oder aber die Grundmannschen Teller.

Das Lokal füllte sich langsam mit erwartungsvoll aussehenden Menschen (auch zwei gut erzogene Hunde kamen). Die meisten waren mir fremd, allesamt Besucher des mittlerweile legendären "Leipzig liest". Die Atmosphäre war nett, die Kellner freundlich, Kerzen brannten, es fühlte sich an wie Heilig Abend mit guten Freunden. Gleich! Gleich würde etwas wunderbares geschehen, und alle, die sich hier versammelt hatten, durften daran teilhaben...

Das Mikrophon erinnerte an einen Revolver, wie es da auf dem kleinen, noch verwaisten Vorlesertischchen stand, seltsamerweise in den Raum gerichtet. Der Kellner servierte mir ein großes Kännchen grünen Tee.

Am Tag zuvor besuchte ich die Buchmesse weit außerhalb der Stadt und als ich abends in der übervollen Straßenbahn zurück in die Stadt zuckelte, müde und k.o. und mir (wie schon so oft) schwor, nie wieder diese Hallen zu betreten, nahm ich drei freundliche Menschen wahr, die sich gemeinsam mit mir die eher für Kinder, als für Erwachsene in winterlicher Montur konzipierten Sitzplätze teilten.

Zuerst fielen mir die Hände des alten Mannes auf, die kleinen flinken Tieren gleich in dem Leipzig-liest-Katalog blätterten. Immerzu fanden sie einen Eintrag, legten einen Fahrschein oder Eintrittskarte dazwischen, blätterten vor und wieder zurück. Die Hände sahen jung aus, sehnig, sehr gepflegt. Welchen Beruf mochte ihr Besitzer ausgeübt haben? Sicher etwas mit Büchern, denn sie lebten sichtlich auf bei Berührung der papiernen Seiten. Auch die Seiten schienen zum Leben erweckt, sie raschelten wie Trockenblumen im sommerlichen Wind. Vielleicht war er aber auch ein berüchtigter Kartenspieler oder in seiner Jugend ein Blackjack-Groupier gewesen? Während ich müde und fußlahm meinen dicken Mantel und Rucksack umklammernd diese interessanten Hände beobachtete, hörte ich den Mann Vorschläge für den anbrechenden Abend machen: Lesung im Bildermuseum um 20 Uhr (also in einer Stunde), danach 21.30 eine andere Lesung ganz woanders, dazwischen könnte man es noch schaffen, ein paar Schritte durch die Stadt zu laufen... Von Speis und Trank und Erholung war keine Rede.

Unglaublich, dachte ich. Woher nehmen diese Menschen ihre Kraft? Die beiden anderen Personen in diesem Trio waren eine ältere Dame, vermutlich die Frau des Besitzers der schönen Hände und ein junger Mann, der neben mir etwas abgewandt saß, so dass ich nur seinen Hinterkopf und ein Stück Wange zu sehen bekam. Der Sohn? Oder Enkel? Voller Vorfreude, sprangen alle drei von den Sitzen auf, als die Bahn den Hauptbahnhof erreichte.

Für mich war das Ausgehen in ein paar Minuten beendet, und darüber war ich sehr froh.

Und einen Abend später saß ich also im besagten Café und erzähle meinen Münchner Damen von der seltsamen Begegnung in der Straßenbahn und dass ich gerne gefragt hätte, woher diese Lesungshungrigen ihre Kraft nehmen, als ich aus dem Augenwinkel eine Hand erblickte, die sich stark vom Hintergrund eines dunkelblauen Herrenmantels abhob: alle Finger in ständiger Bewegung, als würden sie Luftgitarre spielen oder in einer fremdartigen Gebärdensprache jemanden heimlich etwas mitteilen... Da waren sie wieder, die drei! Unglaublich! Just in dem Moment, als ich von ihnen erzählte, betraten sie das Lokal und schauten sich nach ihrem reservierten Tisch um. Und mehr noch: ihr reservierter Tisch stand genau neben uns. Wir saßen plötzlich, ähnlich wie in der Straßenbahn, schauten uns an und sie erkannten mich, alle auf einmal. Eine Freude kam auf! Als hätten wir gestern gemeinsam einen Berg erklommen oder eine Schlucht über eine fragile Hängebrücke unbeschadet überquert.

Ich sagte: Gerade habe ich meinen Freunden von Ihnen erzählt! Und meine Freunde sprachen gleichzeitig dasselbe aus. Woher nehmen Sie ihre Kraft?! fragte ich endlich, und sie sagten, dass sie das ganze Jahr ihre Kraft für diese Lesenächte aufsparten, denn das wäre das Beste, was es in diesem Leben gäbe. Und ausruhen könnte man später genug.

Sie kamen von weit her.

Und ich dachte, auf dem Nachhauseweg, dass Leipzig die Buchmesse schließen und nur noch die Lesungen anbieten sollte. Welch Potenzial steckt in dieser Stadt, mit ihren wunderbaren überraschenden Orten für Lesungen aller Art... Für jeden Autor und jeden Zuhörer wäre etwas Passendes da. Wie ein Jungbrunnen würde es sich auf die Stadt auswirken, wenn all die Messebesucher nicht dort draußen in der Peripherie ihre Tage verbringen würden, sondern in der Stadt.

Mein Weg führte mich an der Pferderennbahn vorbei, der Schnee erhellte den Abend. Ich ging über die Holzbrücke, schwarzes Wasser floss träge dahin, eine Ente räusperte sich im Schlaf. Dann betrat ich den stillen winterlichen Wald, der helle Boden mit blaugrauen Schatten der Bäume bezeichnet. Die Sterne funkelten weiß, die dünne Mondsichel lag entspannt auf dem Rücken und war erschreckend dünn, wie ein Model von Karl Lagerfeld. Wie konnte der Mond in diesem Zustand so viel Licht spenden? Hätte ich ein Buch dabei gehabt, ich hätte es dort lesen können, so hell war es.

Und woher nahmen die Models ihre Kraft, wenn sie so hungerten? Lesungen würden ihnen auch gefallen, dachte ich, und sie vielleicht auf andere Ideen bringen?

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