Ein Leser sitzt im Licht des frühen Winters, das Buch aufgeschlagen auf dem Schoß.
Eine Szene, die auch für das Redaktionsteam dieses Jahres steht: Texte, die nicht drängen, sondern nachhallen. Artikel, die weniger erklären als tasten, weniger beruhigen als befragen. 2025 war ein Jahr, in dem genau diese stillen, widerständigen Stücke für uns die bedeutendsten wurden – die Texte, die wir am liebsten geschrieben, gelesen und weitergetragen haben.
Klassiker – Gegenwart im historischen Gewand
Rainer Maria Rilke –Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben (Sandra Richter)
Sandra Richter öffnete einen Dichter neu, der lange hinter seinem Mythos verschwunden war. Die Biografie zeigt Rilke als gesellig, pragmatisch, widersprüchlich: einen Menschen, der die Welt brauchte, um sie in Sprache zu verwandeln. Ein Buch über Ambivalenz als schöpferische Kraft.
Heinrich von Kleist – Michael Kohlhaas
Kleist demonstriert, wie Sprache kippt, sobald Macht sie berührt. Michael Kohlhaas bleibt die Studie eines Mannes, der an der eigenen Gerechtigkeitsidee zerbricht, weil kein System sie tragen kann. Präzise, unversöhnlich.
Theodor Fontane – Effi Briest
Effi Briest zeigt den höflichen Ton als Tarnung. Fontane beschreibt eine Gesellschaft, die Rücksicht fordert und Rücksichtslosigkeit erzeugt. Kein Dramatikroman, sondern ein feines Protokoll sozialer Zumutungen.
Jane Austen –Stolz und Vorurteil
Austen schreibt unter leichter Oberfläche mit harter Beobachtung. Stolz und Vorurteil ist weniger Liebesgeschichte als Schule der Urteilskraft. Ironie hier nicht als Schmuck, sondern als Erkenntnisinstrument.
Thomas Mann – Buddenbrooks
Buddenbrooks beschreibt mit strenger Genauigkeit den Übergang der Epochen. Ein Roman, der mit zunehmendem Lebensalter nicht besser verständlich, sondern besser lesbar wird — weil seine Genauigkeit deutlicher hervortritt.
Leo Tolstoi – Krieg und Frieden
Tolstoi erinnert daran, was Literatur leisten kann und was sie dem Leser abverlangt. Krieg und Frieden ist kein Epochenroman, sondern ein System: Bewegung, Macht, Gewalt. Ein Text, der Russland in seiner ganzen Ambivalenz sichtbar macht.
Fantastik – Rückzugsräume ohne Belehrung
J. R. R. Tolkien – Der Herr der Ringe
Tolkien wurde nicht aus Analysebedürfnis gelesen, sondern aus dem Wunsch, die Welt für einen Moment auszublenden. Fantasie statt Diagnose, Karten statt Lageberichte.
Eine leise Erkenntnis bleibt: Menschen wollen nicht verstehen, was sie haben und was sie erzeugen – aus Gewalt entsteht nur Gewalt.
Der Herr der Ringe als vorübergehender Rückzugsraum, nicht als Allegorie.
Alexander Wolkow – Der Gelbe Nebel
Eine Welt, die Kinder sich erträumen und Erwachsene wiederfinden können. Kämpfe um das Gute, mit wackeren, aufrechten Freunden, Mut ohne Pose. Am Ende obsiegt das Gute, weil es unaufdringlich ist.
Gegenwartsliteratur – Texte, die jetzt sprechen
Christoph Hein – Das Narrenschiff
Ein Roman, der die DDR nicht nostalgisch betrachtet, sondern ihre Mechanik sichtbar macht. Hein beschreibt Biografien, die vom System geformt und beschädigt werden. Klare Sprache, präzise Perspektiven, unbestechlicher Blick.
Susanne Abel – Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104
Ein Kind ohne Namen, eine Herkunft ohne Dokumente. Abels Roman zeigt, wie Identität unter Bedingungen des Mangels entsteht. Hardy und Margret, zwei Heimkinder, tragen ihre frühen Erfahrungen durch Jahrzehnte. Schweigen als Schutz, Trauma als Erbe – nüchtern, leise, genau.
John Irving – Königin Esther
Irving untersucht Herkunft als Konstruktion. Königin Esther zeigt Familien als Räume, in denen Nähe und Zumutung ineinander greifen. Ein Roman, der mit leichter Hand schwere Linien nachzieht.
T. C. Boyle –No Way Home
Ein Psychodrama über Verlust und Obsession. Terrence, Bethany, Jesse: Figuren, die ihre Richtung verlieren und sich gegenseitig verstärken. Die Wüste Nevadas als Bild der inneren Entleerung. Boyle führt seine Figuren an Grenzen, an denen Groteske und Ernst ineinanderfallen.
Daniel Kehlmann – The Director
Ein Regisseur im Nationalsozialismus, gefangen zwischen Selbsttäuschung, Anpassung und Inszenierung. Kehlmann schreibt präzise, leicht und scharf. Ein Roman über die Frage, wie Verantwortung entsteht – und wie sie erzählt wird.
Ulf Poschardt – Shitbürgertum
Eine Polemik, die keine Balance sucht. Drastische Bilder, schnelle Gedanken, Übertreibungen als Methode. Ein Buch, das Reibung will und sie erzeugt. Ein Text, der Leser zwingt, Position zu beziehen.
Freie Texte – Literatur vor der Form
Zwischen großen Romanen und Debatten standen auch stille Einsendungen: Gedichte, Skizzen, Erzählsplitter. Texte, die nicht wissen müssen, wohin sie wollen. Genau darin liegt ihre Kraft: Literatur im Rohzustand.
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