Kreuzweg der Raben von Andrzej Sapkowski: Zurück an den Anfang, dorthin wo ein Kodex geboren wird
Bevor Geralt „von Riva“ war, war er schlicht: Geralt. Ein junger Hexer, frisch aus Kaer Morhen, mit zwei Runenschwertern, einer Handvoll Prinzipien – und einer Welt, die alle drei permanent testet. „Kreuzweg der Raben“erzählt genau diese Frühphase. Der Roman setzt vor den bekannten Kurzgeschichten ein, positioniert sich ausdrücklich als Vorgeschichte – und öffnet den Blick auf die Werkstatt, in der Geralts berühmter Pragmatismus geschmiedet wurde. Die deutsche Ausgabe erschien am 2. September 2025 bei dtv (Übersetzung: Erik Simon). Das polnische Original „Rozdroże kruków“ kam am 29. November 2024 heraus; die englische Übersetzung von David French ist für den 30. September 2025 angekündigt.
Worum geht es in „Kreuzweg der Raben“?
Sapkowski startet dort, wo Legenden üblicherweise enden: klein, konkret, lokal. Kaedwen ist nicht Kulisse, sondern Mechanik – Zollhäuschen, Amtsstuben, Grenzland-Pfade. Geralt ist unterwegs, noch ohne Balladen-Patina, und stößt sofort auf den Unterschied zwischen Bestiarium und Realität: Die Aufträge sind selten eindeutig, die Auftraggeber noch seltener.
Früh rückt eine Figur ins Zentrum, die den jungen Hexer prägt und prüft: Preston Holt, Mentor und Warnschild in einer Person – Retter, der „Fälle“ löst, bis die Welt ihn zum Geächteten stempelt. Aus dem üblichen „Monster–Auftrag–Bezahlung“-Takt wird eine Loyalitätsfrage: Was schuldet man dem, der einem das Leben gerettet hat, wenn dessen Moral den Behörden im Weg steht? Parallel tritt eine zweite Kraft auf: Vrai Natteraven, eine Zauberin, deren Versprechen so elegant klingen wie ihre Bedingungen. Sie scheint Gerralts wichtigste Verbündete zu werden – doch das Netz, in dem sie hängt, zieht auch ihn hinein.
Die Handlung bleibt bodenständig und nimmt Tempo über Situationen statt Setpieces: verhandelte Grenzen, Hinterhalte im Nebel, nächtliche Kompromisse, ein verletzter Hexer, der entscheiden muss, ob sein Kodex Gesetz ist oder Leitlinie. Immer wieder landet Geralt an Kreuzwegen – buchstäblich und moralisch. Der Titel ist Programm: Jede Abzweigung kostet. (dtv fasst den Plot genau so – mit Kaedwen-Schauplatz, Mentor Preston Holt, Vrai Natteraven, den zwei Runenschwertern sowie Geralt, der „schwer verwundet“ dem Bösen entgegentreten muss.)
Lehrjahre als Ethiklabor
Kodex vs. Kostenvoranschlag: Das Buch zeigt, wie Geralts Regelwerk entsteht: nicht als Pathosformel, sondern Fall für Fall. Neutralität klingt gut, aber Menschen sind keine Fußnoten.
Mentor & Gegenmentor: Preston Holt ist die Reibfläche, an der sich Geralt abarbeitet. Loyalität bekommt Grautöne: Sie schützt – und verführt. Der junge Hexer lernt, das „Warum“ stärker zu prüfen als das „Wer“.
Magie als Verwaltung: Vrai Natteraven steht für ein Magiesystem, das nicht funkelt, sondern verhandelt. Schulden, Gegengaben, Verschwiegenheit – Zauberei als Bürokratie der Macht statt als Lichtspektakel.
Zwei Schwerter, zwei Optionen: Die Runenklingen werden zum Bild für Entscheidungspraxis: zuschlagen oder aushalten; handeln oder hinnehmen. Sapkowski zeigt, wie Entscheidungsarbeit schwerer wiegt als jeder Bosskampf.
Der Titel als Programm: „Kreuzweg der Raben“ entwirft ein Knotenpunktszenario: Raben stehen für Zeugen und Aasfresser zugleich – genau wie Öffentlichkeit, die erst schaut, dann frisst. Der Kreuzweg markiert Wahlpflicht: Nicht-Entscheidung ist hier die gefährlichste Entscheidung.
Kleine Räume, große Systeme
Statt Palastpolitik liefert der Roman Mikropolitik: Kaedwen als Raster aus Ämtern, Zünften, Grenzern, in dem Güte selten zählt, Nützlichkeit immer. Der Effekt ist unaufdringlicher Realismus: Verträge sind Waffen, Gerüchte Währung, und wer Bilder kontrolliert, kontrolliert Verhalten – ein Motiv, das die späteren Saga-Romane im Großen durchexerzieren. Dass dtv das Buch als „The Witcher 6 (Das Prequel)“ führt, klärt zugleich die Zählverwirrung: Es ist chronologisch früh, publikatorisch neu – und damit Brücke und Einstieg zugleich.
Straßennähe statt Posaunen
Sapkowski bleibt dialoggetrieben und lakonisch: Ironie als Seziermesser, Szenen als Beweisstücke. Es gibt keine Welterklärungen, nur Entscheidungen. Das Lesen fühlt sich an wie Protokollarbeit: Wir begleiten, wir urteilen, wir merken, wie teuer eine kleine Lüge sein kann. Die deutsche Übertragung durch Erik Simon hält den Ton knapp, rhythmisch – vertraut für Leser der dtv-Neuausgaben.
Für wen eignet sich „Kreuzweg der Raben“?
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Reihenfans, die den Ursprung der Geralt-Ethik sehen wollen – ohne Retcon, mit neuen Reibflächen.
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Einsteiger, die vor den Storybänden beginnen möchten: Der Roman ist eigenständig lesbar, erklärt aber viel von Geralts späterem Zögern und seiner Sache-vor-Show-Haltung.
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Buchclubs, die lieber über Loyalität, Neutralität und Verantwortung diskutieren als über Dracheninventare.
Kritische Einschätzung – Stärken & Schwächen
Stärken
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Charakterfokus: Ein verletzlicher, lernender Geralt, der Entscheidungen erkämpft statt postuliert.
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Neue Achsen: Preston Holt (Mentor mit Schatten) und Vrai Natteraven (Macht als Verhandlung) fügen dem Kosmos qualitative Figuren hinzu, nicht bloß neue Namen.
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Worldbuilding im Kleinen: Kaedwen wird begehbar – Straßen, Amtszimmer, Flussfurten statt Königssäle.
Schwächen
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Erwartungsbruch: Wer „Saga-Spektakel“ erwartet, vermisst Großschlachten – das Buch wählt Intimität.
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Ton-Kontinuität: Der bekannte Sapkowski-Sound ist hier Feintuning, kein Experiment – Stärke für Fans, Risiko für Neugierige.
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Zählweise: Als „Witcher 6 (Das Prequel)“ gelabelt, sorgt der Band bei Shops für Bandnummer-Debatten; inhaltlich egal, bibliografisch unübersichtlich.
„Was ist wirklich neu?“ – Drei Beobachtungen, die den Band tragen
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Neutralität im Stresstest: Wir sehen, wo Geralts berühmtes „Ich mische mich nicht ein“ versagt – an konkreten Menschen, nicht an Theorien.
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Magie ohne Glitzer: Mit Vrai Natteraven tritt eine Zauberin auf, die Macht verwalten kann – nicht nur wirken. Der Unterschied ist so modern wie schmerzhaft.
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Loyalität ohne Fanfarenton: Preston Holt zwingt Geralt, zwischen Dankbarkeit und Gerechtigkeit zu wählen – und erklärt damit späteres Zögern besser als jede Origin-Predigt.
Lohnt sich die Rückkehr zum Ursprung?
Ja – und zwar, weil das Buch keine Nostalgie melkt. „Kreuzweg der Raben“ baut kein Museum, sondern Fundament. Es zeigt, wie aus einem begabten Kämpfer ein verantwortlicher Profi wird – und warum Geralts „Nein“ oft mutiger ist als sein „Ja“. Für Reihenleser ist es die sauberste Resonanzkammer der späten Bände; für Neuleser die klügste Eintrittstür ins Ethik-Herz dieser Welt. Kurz: lesen – und danach anders auf die frühen Kurzgeschichten blicken.
Über den Autor – Andrzej Sapkowski
Andrzej Sapkowski (1948, Łódź) ist der Schöpfer der Witcher-Saga und eine der prägenden Stimmen der europäischen Fantasy. Seine Prosa ist dialogstark, mythologisch fundiert und politisch nüchtern; „Kreuzweg der Raben“ führt den Kosmos als frühes Prequel fort – nach polnischer Erstveröffentlichung 11/2024 nun in deutscher Ausgabe, die englische Übersetzung folgt 09/2025.
Ist „Kreuzweg der Raben“ Teil der Hauptsaga?
Es ist ein Prequel zur gesamten Reihe – chronologisch vor den Storybänden angesiedelt; dtv führt es als „The Witcher 6 (Das Prequel)“.
Muss ich „Der letzte Wunsch“ vorher lesen?
Nein. Der Roman funktioniert allein, wirkt aber reicher, wenn du die frühen Storybände danach liest – du hörst dann, woher Geralts Kodex kommt.
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