Wenn von deutscher Moderne die Rede ist, fallen meist dieselben Namen: Brecht, Döblin, Thomas Mann. Die Frauen der Epoche dagegen verschwinden gern zwischen den Fußnoten. Dabei schrieb Irmgard Keun schon Anfang der 1930er Romane, die eine ganze Gesellschaft porträtierten – aus der Perspektive junger Frauen, die weder Heldinnen noch Opfer sein wollten, sondern einfach leben.
Keun brachte das Berlin der Zwischenkriegszeit zum Sprechen wie kaum eine andere. Ihr Ton war schnoddrig, lakonisch, von einer Selbstironie durchzogen, die man heute fast als literarisches Pendant zu einer Twitter-Timeline lesen könnte.
Worum es geht: Frauen im Strom der Großstadt
Keuns berühmtester Roman, Das kunstseidene Mädchen (1932), erzählt von Doris, einer Sekretärin, die in der Großstadt Karriere machen will – nicht durch Bildung, sondern durch Glamour. „Ich will ein Glanz werden, und Menschen sollen nach mir gucken“, sagt sie. Ein Satz, der im Jahr 2025 ohne Weiteres als TikTok-Bio durchginge.
Doch hinter dem Glanz steht die Realität: prekäre Jobs, Abhängigkeiten, Männer, die Macht ausspielen. Keun zeichnet damit eine weibliche Perspektive auf die Moderne, die nichts mit den großen „Menschheitsfragen“ eines Thomas Mann zu tun hat, sondern mit der alltäglichen Erfahrung, sich durchzuschlagen.
Die Moderne von unten
Während die männlichen Autoren die Moderne oft als Krise der Zivilisation beschrieben, zeigt Keun die Moderne als Krise des Alltags. Inflation, Arbeitslosigkeit, die fragile Republik – all das bricht sich bei ihr in den Lebensläufen von Verkäuferinnen, Angestellten, Schauspielerinnen. Ihre Sprache ist direkt, zugespitzt, humorvoll. Statt pathetischer Sätze gibt es pointierte Beobachtungen: wie Frauen mit der Handtasche um Macht kämpfen oder mit einem Blick eine Hierarchie verschieben.
Das ist eine „andere Moderne“ – keine abstrakte Theoriedebatte, sondern das Leben im Straßenstaub.
Warum sie vergessen wurde
Keun hatte Erfolg. Ihre Bücher verkauften sich in hohen Auflagen, sie war eine literarische Stimme der Weimarer Republik. Doch 1933 wurden ihre Werke von den Nationalsozialisten verboten, Keun ging ins Exil, ihre Karriere brach ab. Nach 1945 geriet sie fast vollständig in Vergessenheit – während männliche Kollegen wie Heinrich Böll oder Günter Grass kanonisiert wurden.
Dass sie erst in den 1970er-Jahren wiederentdeckt wurde, sagt mehr über die literarische Erinnerungspolitik als über ihr Werk. Die Moderne wurde lange als männlich, ernst, weltanschaulich inszeniert – für weibliche Ironie und Alltagsprosa war darin kein Platz.
Warum wir sie heute neu lesen
Heute ist Keuns Blick aktueller denn je. In einer Kultur, die wieder über Prekarität, Arbeitsdruck und Selbstinszenierung diskutiert, wirken ihre Figuren verblüffend zeitgenössisch. Doris, die Glanz werden will, könnte ebenso gut in einer Casting-Show auftreten oder einen Lifestyle-Blog betreiben.
Ihre Ironie ist dabei keine Pose, sondern Überlebensstrategie. Während andere resignieren, machen Keuns Figuren weiter – mit Witz, mit List, mit einem klaren Blick auf das, was Machtverhältnisse wirklich ausmacht.
Ein anderes Kapitel der Moderne
Irmgard Keun zeigt, dass Literaturgeschichte nicht nur aus „großen Männern“ besteht, sondern aus Stimmen, die die Erfahrung der Moderne von unten erzählten. Sie schrieb nicht über die Krise der Menschheit, sondern über die Krise der Miete, des Jobs, der Beziehung – und damit über das, was Moderne für die meisten Menschen tatsächlich bedeutete.
Wenn wir heute von „vergessenen Stimmen“ sprechen, dann nicht, weil sie weniger zu sagen hatten, sondern weil wir ihnen zu lange nicht zugehört haben.
Über die Autorin Irmgard Keun
Irmgard Keun (1905–1982), geboren in Berlin, veröffentlichte Anfang der 1930er-Jahre mehrere erfolgreiche Romane, darunter Gilgi – eine von uns (1931) und Das kunstseidene Mädchen (1932). Ihre Werke wurden 1933 von den Nationalsozialisten verboten. Sie lebte im Exil, kehrte 1940 nach Deutschland zurück und geriet lange in Vergessenheit. Heute gilt sie als eine der wichtigsten weiblichen Stimmen der Moderne.