Eugen Gomringer ist verstorben am Donnerstag, den 21. August 2025, in Bamberg, seiner Wahlheimat. Er wurde 100 Jahre alt. Dass er so alt wurde, passt zu ihm: Das Leben als streng gezählte Einheit, fast wie eine Verszeile, getragen von Disziplin und Klarheit. Gomringer war der Begründer der Konkreten Poesie, ein Mann, der Worte wie Bausteine behandelte und ihnen architektonische Präzision abverlangte.
Sein Name bleibt untrennbar mit dem Gedicht avenidasverbunden, das einst so viel Debatte auslöste, dass eine Hochschule es sogar wieder von ihrer Fassade entfernen ließ. Nun ist er selbst Geschichte geworden – und hinterlässt ein Werk, das sich erstaunlich still ins literarische Gedächtnis einschreibt.
„welt im sonett“ – die Rückkehr zur Tradition
2019 veröffentlichte Gomringer mit welt im sonett. sämtliche sonette sein Spätwerk, das auch als autobiografische Verdichtung gelesen werden kann. Der Lyriker, der zuvor die Sprache zerlegte, konzentrierte und zum Bild verdichtete, entschied sich am Ende seines Schaffens für die wohl klassischste Form gebundener Dichtung: das Sonett. In vierzehn Zeilen setzte er auf Metrum, Reim und strenge Ordnung, als wollte er sein Leben ein letztes Mal in ein Gerüst fassen, das Halt gibt.
Diese Entscheidung ist keineswegs konservativ, sondern fast ironisch. Wer sein Leben lang die Sprache von Ballast befreite, vertraute am Ende dem ältesten Disziplininstrument der europäischen Poesie. Gomringer baute sein Leben in Sonetten nach, als wollte er sagen: Auch Reduktion braucht Form, und Erinnerung braucht Ordnung.
Themen zwischen Reisen, Kunst und Philosophie
Die Sonette entfalten sich nicht als Bekenntnisliteratur, sondern als mosaikartige Zusammensetzung. Reisen, Begegnungen mit Künstlern und Philosophen, architektonische Eindrücke – all dies tritt in den Gedichten auf, aber ohne Pathos. Gomringer erzählt nicht, er arrangiert. Statt autobiografischem Ausschweifen entsteht ein klarer, beinahe kühler Rhythmus der Erinnerung, in dem jeder Gedanke einen festen Platz erhält.
Man könnte sagen: Gomringer hat seine Autobiografie nicht geschrieben, er hat sie gebaut. Wie ein Architekt, der auf Stahlträger und Sichtbeton vertraut, setzte er Erinnerungen in Verse, die zugleich streng und offen wirken.
Der leise Ton des Spätwerks
Wer Gomringer nur als Wortminimalisten kennt, der staunt über den fast zärtlichen Ton der Sonette. Die Klarheit bleibt, aber die Härte weicht. Statt Schlagworten und Sprachbildern, die sich wie visuelle Objekte auf einer Fläche ausbreiten, wählt er den klassischen Fluss von Metrum und Reim. Das ergibt eine neue Balance: weniger Experiment, mehr Sammlung.
Damit zeigt sich ein Dichter, der nicht müde wurde, sondern seine Ausdrucksformen noch einmal neu disziplinierte. In welt im sonett ist keine Resignation zu spüren, sondern eine Art späte Gelassenheit.
Ein Vermächtnis in Versmaß
Dass Gomringer im hohen Alter noch einmal ein ganzes Buch in strengster Form schrieb, ist mehr als eine literarische Fingerübung. Es ist sein Vermächtnis. Er, der die Konkrete Poesie mitbegründete, hat sich zuletzt in die Tradition gestellt, aus der er ursprünglich ausgebrochen war. Dieser Kreis schließt sich ohne Sentimentalität, aber mit einer leisen Ironie, die typisch für ihn bleibt.
Gomringer sagte einst, er könne sich nicht vorstellen, je mit dem Schreiben aufzuhören. welt im sonett bestätigt das: Es ist das Werk eines Dichters, der nicht aufhören wollte, Worte in Ordnung zu bringen. Sein Tod beendet ein Jahrhundert, aber sein Werk bleibt – gebaut wie eine Spracharchitektur, in der man sich heute noch bewegen kann.
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