Kein Hauch von Wahrheit ist die deutschsprachige Ausgabe von Lisa Jewells internationalem Bestseller None of This Is True (2023). Der Roman verlegt den Thrill ins Heute: True-Crime-Hype, Social-Media-Selbstinszenierung und die Frage, wie weit man eine Geschichte formen darf, bis sie Menschenleben zerstört. Die deutsche Ausgabe erscheint 2025 bei Ronin und übernimmt Setting und Figuren der englischen Vorlage.
Kein Hauch von Wahrheit von Lisa Jewells: Podcasterin trifft „Birthday Twin“ – und alles kippt
Was passiert in Kein Hauch von Wahrheit: Alix & Josie – Podcast, Nähe, Gefahr
Alix Summer ist eine erfolgreiche Podcasterin. An ihrem 45. Geburtstag trifft sie in einem Londoner Pub Josie Fair – ebenfalls 45, im selben Krankenhaus geboren. Josie bittet Alix, ihre geplanten „Veränderungen“ in einem neuen Podcast zu begleiten: endliche Wahrheiten aus einer Ehe mit dem deutlich älteren Walter, Geschichten über die Töchter Erinund Roxy, über Jahre des Schweigens. Alix willigt ein – auch, weil sie zuhause mit Ehemann Nathan (sein Alkoholkonsum setzt der Familie zu) selbst nicht in ruhigem Fahrwasser ist. Doch je tiefer Alix in Josies Erzählungen einsteigt, desto mehr Widersprüche, Auslassungen und Unstimmigkeiten häufen sich.
Zwischen Interviews, privaten Gesprächen und aufkommenden Medieninteressen beginnt Josie, Grenzen zu überschreiten. Nathan verschwindet, und Alix’ sicher geglaubtes Leben wird akut angreifbar. Der Roman zeigt diesen Sog Schritt für Schritt, ohne schnelle Lösungen zu liefern – die Auflösung lassen wir aus; wesentlich ist das Gefühl, dass ein Narrativ Besitz von allen ergreift.
Wahrheit als Erzählung – Manipulation, Kontrolle, Öffentlichkeit
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Unzuverlässiges Erzählen: Jewell konfrontiert uns mit der Frage, wem wir glauben – einer charismatischen Podcasterin, einer vermeintlich hilfsbedürftigen Frau, der anonymen Öffentlichkeit? Das Buch nutzt interne Logiklöcher und verschobene Perspektiven, um Vertrauen zu destabilisieren.
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Parasoziale Nähe & True-Crime-Kultur: Der Podcast dient als Drehkreuz zwischen Intimität und Bühne. Was als Dokumentation beginnt, erzeugt Druck auf alle Beteiligten – und verführt zu Zuspitzungen, die außerhalb des Mikros nicht haltbar wären.
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Kontrollbeziehungen: In Josies Biografie (frühe Bindung an einen viel älteren Partner) wird coercive controlgreifbar: Überwachung, Abhängigkeit, Scham – Muster, die Jewell ohne Pathos sichtbar macht und dann mit der Öffentlichkeit kurzschließt.
Warum dieser Stoff jetzt wirkt
Die Serialisierung von Intimität – Podcasts, Dokus, Social Feeds – macht heutige Geschichten größer und lauter als die Menschen, die sie tragen. Jewell zeigt, wie mediale Aufbereitung Wirklichkeit kuratiert: Was gesagt wird, zählt oft mehr als das, was ist. Das ist nicht nur Thriller-Treibstoff, sondern ein Zeitdiagnose-Element: Aufmerksamkeit wird zur Währung, und wer die Story kontrolliert, kontrolliert die Bühne. (Die deutsche Ausgabe positioniert den Roman explizit als Psychoduell zweier Frauenfiguren im Sog von Nähe/Gefahr.)
Doku-Elemente, Perspektivwechsel, Sog
Das Besondere ist die Mischform: klassische Erzählkapitel wechseln mit Podcast-Transkripten und „Dokuserien“-Passagen. Dieser dokumentarische Einschlag erzeugt Tempo, verdichtet Spannung und lässt Lücken – genau dort spekulieren Leser:innen weiter. Formal arbeitet Jewell mit alternierenden Fokussen (Alix/Josie), Zeitstempeln und Tonlagenwechseln: professionell, intim, verstörend. Ergebnis: ein Sog, der nicht auf Schockmomente, sondern auf Reibung zwischen Versionen setzt.
Für wen lohnt sich „Kein Hauch von Wahrheit“?
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Psychothriller-Fans, die Spannung aus Figurenpsychologie ziehen – nicht nur aus Twists.
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Hörer:innen von True-Crime/Interview-Podcasts, die die Mechanik von Storytelling reflektieren möchten.
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Buchclubs, die über Grenzen, Glaubwürdigkeit, Victim/Perpetrator-Narrative diskutieren wollen.
Weniger geeignet, wenn du eine klassische Ermittlungsdramaturgie (Polizei, Forensik) erwartest; der Roman bleibt nah an zwei Privatierten und ihrem gegenseitigen Zugriff.
Kritische Einschätzung – Stärken & mögliche Schwächen
Stärken
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Form trifft Inhalt: Die Doku-/Podcast-Einsprengsel machen Wahrheitsfragen zum Leseerlebnis – du spürst, wie Versionen gegeneinander antreten.
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Figurenzeichnung: Josie ist eine selten ambivalente Figur – zwischen Mitleid, Misstrauen und Faszination. Alix’ berufliche Rolle kollidiert glaubhaft mit ihrem Privatleben.
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Zeitgenauigkeit: Der Roman nutzt heutige Medienlogiken ohne Effekthascherei – die Spannung entsteht aus Stimmen, nicht aus Splatter.
Mögliche Schwächen
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Unbehagen statt Auflösung: Wer klare moralische Eindeutigkeit erwartet, wird die Grauzonen als frustrierend empfinden.
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Stress durch Nähe: Das Eindringen Josies in Alix’ Leben ist konsequent unangenehm – für manche Leser:innen emotional fordernd.
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Tempoempfinden: Der Mittelteil wiederholt bewusst Mikroverschiebungen – stark für Stimmung, weniger für „Pageturner“-Speed.
Häufige Fragen (kurz beantwortet)
Ist „Kein Hauch von Wahrheit“ Teil einer Reihe?
Nein, ein Standalone-Psychothriller.
Spielt der Podcast formal wirklich eine Rolle – oder nur als Plot-Idee?
Er ist zentral: Der Text integriert Transkripte/Doku-Segmente, die die Wahrnehmung verschieben.
Gibt es eine deutsche Print- oder Hörbuchausgabe?
Ja. Die deutsche Ausgabe erscheint 2025 bei Ronin (dt. Titel Kein Hauch von Wahrheit); Produktseiten nennen Omondi/ Ronin als Anbieter.
Über die Autorin: Lisa Jewell – Queen des psychologischen Alltags-Thrills
Lisa Jewell (geb. 1968, London) ist eine der erfolgreichsten britischen Thriller-Autorinnen. Ihre Romane erscheinen in über 30 Sprachen, darunter The Family Upstairs / Was damals geschah und The Family Remains / Was nicht vergessen wurde. In Deutschland wird Kein Hauch von Wahrheit als Erstveröffentlichung der „Birthday-Twin“-Storybeworben. Jewell lebt mit ihrer Familie in London.
Lohnt sich „Kein Hauch von Wahrheit“?
Ja – sehr, wenn du psychologische Spannung mit Gegenwartsnerv suchst. Jewell zeigt, wie Erzählen Macht erzeugt – im Guten wie im Bösen. Der Roman ist klug gebaut, atmosphärisch beunruhigend und entlässt dich ohne Gewissheit, aber mit einer klaren Erkenntnis: Narrative haben Folgen – für Karrieren, Beziehungen, Sicherheit. Und manchmal beginnt alles mit einer Begegnung, die man besser nicht in einen Feed gegossen hätte.
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