Betrug von Zadie Smith: Hochstapler, Hausangestellte, Empire – ein viktorianischer Fall für die Gegenwart
Betrug (The Fraud, 2023) ist Zadie Smiths erster historischer Roman – und einer ihrer politischsten: Ausgehend vom Tichborne-Fall, dem berühmtesten Hochstaplerprozess des viktorianischen Englands, erzählt sie von Wahrheit und Täuschung, von Klasse, Rasse und Empire – und davon, wie öffentliche Erzählungen Menschen und Institutionen formen. Die deutsche Ausgabe erschien 2023 bei Kiepenheuer & Witsch, übersetzt von Tanja Handels.
Eliza Touchet, Andrew Bogle – und ein Prozess, der London elektrisiert
London und Provinz in den 1870er-Jahren: Eliza Touchet, schottische Hausverwalterin, Verwandte durch Heirat und langjährige Gefährtin des heute verkleinerten Bestsellerautors William Harrison Ainsworth, beobachtet mit scharfem Blick die literarische Szene und ein Land im Umbruch. In den Zeitungen wächst der Kult um den „Tichborne Claimant“ – ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der behauptet, der verschollene Erbe der reichen Familie Tichborne zu sein. Der Sensationsprozess spaltet die Öffentlichkeit: Arme gegen Reiche, Provinz gegen Establishment. Eliza verfolgt die Verhandlungen im Gerichtssaal; dort trifft sie auf Andrew Bogle, einen in Jamaika versklavt geborenen Mann, der als Schlüsselzeuge auftritt und dessen Lebensgeschichte – Plantage, Migration, Dienstverhältnis – das Imperium hinter der Londoner Bühne sichtbar macht.
Smith montiert zwei Lebenslinien: Elizas nüchtern-ironische Innenwelt und Bogles Erfahrungswissen über Kolonialwirtschaft. Das ergibt ein Panorama, in dem Privatgespräche, Zeitungsgerüchte, Salons und Gerichtsszenen ineinandergreifen. Der Roman bleibt spoilerbewusst: Entscheidend ist nicht das Urteil allein, sondern wie Öffentlichkeit erzeugt wird, wer gehört wird – und wer die Deutungshoheit behält. 
Öffentlichkeit als Theater – Klasse, Empire, Wahrhaftigkeit
• Wahrheit vs. Story: Der Prozess zeigt, wie Erzählungen (Pamphlete, Zeitungen, Bestseller) Wahrheit übertönen. Smith interessiert weniger die Beweisführung als die Mechanik der Überzeugung: Populistische Affekte schlagen bürgerliche Vernunft.
• Klasse & Identität: Der „Claimant“ wird zur Projektionsfläche derjenigen, die soziale Aufstiege fordern. Die Frontlinie Arm vs. Reich verläuft quer durch Parlamente, Pubs und Presse.
• Empire im Alltag: Über Andrew Bogle holt Smith Plantagenökonomie und Sklavereigeschichte in den Londoner Gerichtssaal – und macht sichtbar, dass der britische Wohlstand auf Kolonialarbeit fußt.
• Literatur & Eitelkeit: Nebenfigur Ainsworth (Rival und Zeitgenosse von Dickens) steht für das Betriebsgeräusch der literarischen Industrie: Serien, Ruhm, Neid – und die Frage, ob Fiktion der Wahrheit dient oder ihr ausweicht.
Der Tichborne-Fall als Massenphänomen
Der reale Tichborne-Prozess polarisierte das viktorianische England: Ein Mann (oft mit Roger/Arthur Orton in Verbindung gebracht) beanspruchte Titel und Vermögen der Tichbornes; das Land diskutierte über Beweise, Klassenneid und Identität. Smiths Roman greift dokumentierte Elemente auf – darunter die Rolle Andrew Bogles als Zeuge – und verdichtet sie zu Literatur. Das Ergebnis ist keine Chronik, sondern eine Erzählung über Wahrnehmung: Wie entstehen Massenüberzeugungen? Warum halten sie sich?
Scharfe Ironie, feine Figurenarbeit, szenische Verdichtung
Smith schreibt präzise, wendig, oft komisch – ohne die historischen Stoffe zu verharmlosen. Gerichtsszenen und Salonminiaturen wechseln mit Biografie-Flashbacks; Elizas Beobachtungen tragen einen trockenen Witz, der Pointen liefert, ohne die moralische Ernsthaftigkeit zu verlieren. Kritiken heben hervor, wie souverän Smith Stimmen trennt und historische Recherche in Lesbarkeit überführt.
Für wen eignet sich „Betrug“?
• Leser:innen historischer Romane, die Recherche und Gegenwartsbezug schätzen.
• Buchclubs, die über öffentliche Meinung, Kolonialgeschichte und literarische Selbstinszenierung diskutieren möchten.
• Zadie-Smith-Fans, die ihre Gegenwartsbeobachtung in einer viktorianischen Kulisse erleben wollen.
Weniger geeignet, wenn du eine klassische Krimispannung erwartest: Der Sog entsteht aus Diskurs, Figurenblick und Sprache, nicht aus Twist-Feuerwerk.
Kritische Einschätzung – Stärken & mögliche Schwächen
Stärken
1. Großer Stoff, klar erzählt: Komplexe Quellenlage, zugänglich gemacht – mit pointierten Szenen. (So u. a. Harvard Review/Guardian.)
2. Doppelperspektive mit Wirkung: Eliza (Innenblick, Literaturbetrieb) + Bogle (Empire, Erfahrung) machen strukturelle Fragen menschlich.
3. Zeitdiagnose ohne Thesenkeule: Der Roman zeigt Populismus und Medienhype historisch – und lässt die Gegenwart mitschwingen.
Mögliche Schwäche:
1. Voraussetzungen: Wer Viktorianistik und Pressegeschichte nicht mag, könnte den Einstieg als arbeitsintensiv empfinden. (So manche deutschsprachige Rezension.)
2. Erwartungsmanagement: Wer eine „Tichborne-Doku“ sucht, könnte die literarische Freiheit (Schwerpunkt Figuren statt Prozessakten) als Umweg lesen.
Einordnung & Rezeption
International wurde The Fraud 2023 breit besprochen (u. a. NYT, The Guardian, Washington Post); vielfach gelobt wurden Ton, Figurenzeichnung und Gegenwartsresonanz. Für deutschsprachige Leser:innen verankert Tanja Handels’ Übersetzung die historische Registervielfalt überzeugend im Deutschen.
Über die Autorin: Zadie Smith – von White Teeth bis Betrug
Zadie Smith (geb. 1975, London) wurde mit „Zähne zeigen“ (White Teeth, 2000) international bekannt. „On Beauty“ (2005) stand auf der Booker-Shortlist und gewann 2006 den Orange Prize for Fiction; „Swing Time“ (2016) war Booker-longlisted. Neben Romanen veröffentlichte sie Essays (Feel Free, Intimations). Betrug verbindet ihre Gegenwartsdiagnose mit historischer Recherche – und zeigt, wie sie Literaturgeschichte, Medien und Politik ineinander liest.  
Lohnt sich „Betrug“?
Ja. Smith nutzt einen spektakulären Prozess, um Erzählmacht zu untersuchen: Wer erzählt wessen Geschichte – und zu welchem Preis? Durch die kluge Doppelperspektive und den leisen, oft komischen Ton entsteht ein Roman, der historisch satt und aktuell hellwach ist. Wer Sprache liebt und gesellschaftliche Mechaniken verstehen will, bekommt hier erstklassige Literatur, die lange nachhallt.