Ein Buch wie ein Fenster: Der Zauberer der Smaragdenstadt

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Manchmal öffnet ein Buch nicht nur ein Fenster zur Fantasie, sondern gleich die ganze Wand. So ist es mit Alexander Wolkows „Zauberer der Smaragdenstadt“, jenem sowjetischen Abkömmling der amerikanischen Wunderwelt, der in der DDR jahrzehntelang zum festen Bestandteil des kindlichen Lesekosmos gehörte – nicht zuletzt wegen der eigenwillig-liebevollen Illustrationen von Leonid Wladimirski, der es verstand, Zauber und Zögern, Abenteuer und Alltag so in Szene zu setzen, dass selbst Erwachsene nicht immer wussten, ob sie schmunzeln oder weiterblättern sollten.

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Der Zauberer der Smaragdenstadt (Grüne Reihe)

Inhalt: Kein Sturm ohne Folgen

Es beginnt mit einem Sturm – wie so vieles, das uns die Welt durcheinanderbringt. Elli, ein Mädchen mit Hund und Haltung, wird samt Häuschen in ein Land geweht, in dem Hexen fallen wie Altlasten und Ziegel nur in Gelb verlegt werden. Auf dem Weg zur Smaragdenstadt trifft sie: eine Vogelscheuche, die sich nichts sehnlicher wünscht als Verstand (wer könnte das nicht nachvollziehen), einen Holzfäller auf der Suche nach Herz (der als einziger nicht an seinem Rost zweifelt), und einen Löwen, dessen Mut sich vor allem darin zeigt, dass er über seine Feigheit spricht. Gemeinsam schlagen sie sich durch – gegen Bastinda, Menschenfresser und andere Zumutungen – bis sich herausstellt, dass der große Zauberer hinter dem Vorhang ein ganz gewöhnlicher Mann ist. Oder gerade deshalb?

Für Leseanfänger: Der sanfte Einstieg ins Abenteuer

Dieses Buch ist wie geschaffen für Kinder, die gerade beginnen, mit Worten die Welt zu erobern. Nicht, weil es einfacher wäre als andere – sondern weil es klüger ist. Wolkow erzählt mit einer Klarheit, die nicht banal wirkt, mit Wiederholungen, die nicht ermüden, und mit Figuren, die mehr sind als Staffage.

Und dann sind da die Bilder: Wladimirski schenkt jeder Figur einen unverwechselbaren Ausdruck – mal staunend, mal schief, manchmal mit einem Augenzwinkern, das gerade so auffällig ist, dass Kinder es bemerken. Seine Zeichnungen begleiten die Geschichte, ohne sie zu erklären, sie fangen ein, ohne einzuengen. Für junge Leser sind sie Stütze und Einladung zugleich – ein visuelles Versprechen, dass sich das Weiterlesen lohnt.

Bild und Szene: Das Spiel mit dem Ausdruck

Wladimirski illustriert keine Geschichte – er denkt mit. Seine Vogelscheuche schaut nicht dumm, sondern zweifelnd; der Löwe sieht nicht ängstlich aus, sondern ertappt. Es sind oft die kleinen Linien – ein gebogener Mundwinkel, eine erhobene Braue – die erzählen, was der Text andeutet. Und doch bleibt alles in Bewegung: Figuren, Perspektiven, sogar der Horizont wirkt nie ganz stabil.

Interessant auch, dass die Illustrationen gelegentlich leicht versetzt zum Text erscheinen. Wer wollte, könnte das für einen Mangel halten. Wer hinschaut, erkennt: Es ist eher ein leiser Hinweis darauf, dass Bild und Wort zwei eigene Erzählweisen sind – die sich begegnen, aber nicht verschmelzen.

Zwischen Baum und Bastinda: Was bleibt von Baum?

Natürlich steht L. Frank Baums „Wizard of Oz“ Pate. Aber Wolkow schreibt nicht ab, er verwandelt. Aus Dorothy wird Elli, aus dem einsamen Waisenkind ein Mädchen mit Eltern und Heimat. Statt episodischem Irrweg gibt es eine stringente, moralisch eingebettete Reise – kein Zufall, sondern Ziel. Die Figuren entwickeln sich nicht zufällig, sondern gemeinsam. Freundschaft ist hier kein Nebenprodukt, sondern Voraussetzung.

Dabei gelingt es Wolkow, Werte zu erzählen, ohne mit ihnen zu winken. Mut zeigt sich im Zweifel, Verstand im Zuhören, Herz in der Bereitschaft, sich berühren zu lassen. Die DDR-Lesart dürfte das mit Wohlwollen aufgenommen haben: eine Geschichte über Gemeinschaft, ohne Parole; ein Abenteuer, das ohne Heldenkult auskommt.

Mit Herz, ohne Pathos

„Der Zauberer der Smaragdenstadt“ ist ein seltenes Buch: Es nimmt seine jungen Leser ernst, ohne sie zu belehren. Es erzählt eine abenteuerliche Geschichte, ohne laut zu werden. Und es zeigt mit Wladimirski einen Illustrator, der seine Figuren nicht idealisiert, sondern ihnen Raum lässt – zum Wachsen, zum Stolpern, zum Staunen.

Für Kinder, die gerade erst mit dem Lesen beginnen, ist dieses Buch kein Testlauf, sondern ein echtes Erlebnis. Und für Erwachsene? Vielleicht eine Erinnerung daran, dass die besten Geschichten oft dort beginnen, wo jemand einfach die Haustür öffnet – und der Wind zu wehen beginnt.

Über den Autor

Alexander Wolkow (1891–1977) war Lehrer, Mathematiker und ein genauer Leser seiner Zeit. Als er begann, Baums „Oz“ zu übersetzen, entschied er sich, mehr als nur Sprache zu übertragen: Er schrieb eine eigene Version, eine sowjetisch geerdete Variante, die das Märchenhafte nicht entmystifiziert, aber sinnvoll verankert. Das Ergebnis: eine Reihe von Geschichten, die sich durch ihre Wärme, Klarheit und ihren Sinn für Gemeinschaft auszeichnen – und die bis heute wirken.



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