„Spur der Steine“ – Wie ein Brigadier zum Mythos wurde (und was heute davon übrig ist)

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Manchmal genügt eine Baustelle, um den Zustand einer Gesellschaft zu erklären. In Erik Neutschs Roman Spur der Steine ist es die Großbaustelle Schkona – ein Ort, an dem nicht nur Rohrleitungen verlegt, sondern auch Ideale durchgespült werden. Und wie das so ist mit Idealen: Sie halten selten dem Wasserdruck des Alltags stand.

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Neutsch schrieb 1964 ein Buch, das auf 900 Seiten nicht nur Baubrigaden beschreibt, sondern eine ganze Republik in Bewegung – ideologisch, technisch, menschlich. Was sich zunächst nach Pflichtlektüre für FDJler anhört, ist in Wahrheit ein erstaunlich differenziertes, oft ironisches Gesellschaftspanorama. Eine Erzählung über Funktionäre, die sich verrennen, über Bauleiter, die mit der Faust schneller sind als mit dem Antrag, und über Ingenieurinnen, die zwischen Moral, Liebe und Baubericht eigene Wege suchen.

Hannes Balla: Der Bauproletarier als Naturgewalt

Im Zentrum: Hannes Balla, Brigadier mit ausgeprägtem Sinn für Effizienz und eigenem Verständnis von sozialistischer Eigentumsordnung – nämlich: Was nicht festgeschraubt ist, gehört der Brigade. Er wirkt wie ein vergessener Bruder von Bud Spencer – bloß ohne Pasta, aber mit Parteibuch im Rücken. Balla ist das raue Herz des Romans, derjenige, dem man nicht widerspricht, weil man ihn ohnehin nicht aufhalten kann. Und gerade deshalb ist er die tragischste Figur: einer, der immer liefert – und trotzdem nie dazugehört.

Neben ihm: Werner Horrath, Parteisekretär mit Gewissensbiss, und Kati Klee, die zwischen Theorie und Zärtlichkeit laviert. Ein Dreieck, das weit mehr ist als eine Liebesgeschichte – es ist ein Minenfeld politischer Loyalität und privater Emanzipation.

Der Film: Zu echt, zu unbequem – und deshalb verboten

Dass dieser Roman verfilmt wurde, ist erstaunlich. Dass der Film auch noch gut wurde, grenzt an ein Wunder. Regisseur Frank Beyer gelang 1966 mit Spur der Steine einer der mutigsten und stilistisch eigenständigsten Filme der DDR. Gedreht in rauem Schwarzweiß, mit der Ästhetik eines DDR-Western, lässt Beyer Balla – gespielt von einem herrlich ungebügelten Manfred Krug – durch die Baustelle poltern wie Clint Eastwood durch die Prärie.

Doch statt Applaus gab’s den Rohrkrepierer der Kulturpolitik: Nach wenigen Tagen verschwand der Film im Giftschrank. Offizielle Begründung: Die Arbeiter seien „nicht vorbildlich“ dargestellt. Inoffiziell: Der Film war zu nah dran an der Realität. Und Nähe war in der DDR selten erwünscht, schon gar nicht im Kino.

Erst 1989 – als ohnehin alles wackelte – wurde der Film wieder gezeigt. 1990 lief er auf der Berlinale. Zu spät für Frank Beyers Karriere, aber früh genug für einen späten Triumph der Wahrhaftigkeit.

Und heute? Von der Brigade zur Doku-Serie

Heute steht auf vielen Baustellen keine Brigade mehr, sondern eine Subfirma der Subfirma. Die Baupläne digital, die Konflikte kaum weniger absurd – nur dass keiner mehr laut wird. Hannes Balla wäre heute entweder im Gefängnis oder in der dritten Staffel einer Realityshow über „Deutschlands härteste Bauleiter“.

Spur der Steine wirkt aus heutiger Sicht wie ein Echo aus einer anderen Welt – aber einem, dem man zuhören sollte. Denn wer heute über Fachkräftemangel klagt, der sollte sich fragen, wann eigentlich der Respekt gegenüber dem Handwerk verloren ging. Vielleicht war’s in dem Moment, als Bauarbeiter zu „Montagekräften“ wurden und Brigadiere durch Bauleiter mit PowerPoint ersetzt wurden.

Neutsch’ Roman und Beyers Film zeigen nicht einfach, wie gebaut wurde. Sie zeigen, was es heißt, mit Widerspruch zu leben, Verantwortung zu übernehmen – und Haltung zu zeigen, auch wenn’s unbequem wird. Das ist vielleicht die eigentliche Lehre aus Schkona: Dass es eine Gesellschaft ohne respektiertes Handwerk nicht weit bringt. Oder um es mit Balla zu sagen: Ohne Hammer geht hier gar nichts.

Spur der Steine ist nicht nur ein Roman über eine DDR-Baustelle und mehr als ein damals verbotener DEFA-Film. Es ist ein doppelter Erinnerungsraum – an eine Zeit, in der gebaut wurde, nicht nur an Häusern, sondern auch an Überzeugungen. Dass viele dieser Überzeugungen heute unter Geröll liegen, heißt nicht, dass sie keine Spur hinterlassen haben. Man muss nur genau hinschauen – und ab und zu einen Stein umdrehen.


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