Friedrich Dürrenmatt zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Dramatikern des 20. Jahrhunderts. Sein Stück Die Physiker, 1962 in Zürich uraufgeführt, ist ein Meisterwerk des politischen Theaters, das bis heute nichts von seiner Relevanz verloren hat. In der zugespitzten Form einer Groteske verhandelt Dürrenmatt zentrale Themen wie die Verantwortung der Wissenschaft, den Missbrauch von Macht und die moralische Ohnmacht des Individuums in einer technokratisch und ideologisch gesteuerten Welt.
Die Physiker – Friedrich Dürrenmatts Tragikomödie über Wissenschaft, Moral und Machtmissbrauch
Angesichts aktueller Debatten um Künstliche Intelligenz, Biotechnologie oder Klimaforschung wirkt das Stück heute aktueller denn je. Die Physiker ist kein historisches Dokument, sondern ein zeitloses Drama über den menschlichen Umgang mit Wissen und die Frage: Wer darf was mit welchem Wissen tun?
Drei Physiker, ein Irrenhaus und eine Formel, die die Welt verändern kann
Die Handlung spielt in der privaten Heilanstalt „Les Cerisiers“, geleitet von der scheinbar fürsorglichen, aber in Wahrheit machtbesessenen Psychiaterin Mathilde von Zahnd. Dort leben drei Physiker:
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Johann Wilhelm Möbius, der behauptet, vom biblischen König Salomo Visionen zu empfangen
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Herbert Georg Beutler, der sich für Sir Isaac Newton hält
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Ernst Heinrich Ernesti, der sich als Albert Einstein ausgibt
Alle drei Männer haben Krankenschwestern ermordet, weshalb Inspektor Voß Ermittlungen aufnimmt. Doch nach und nach zeigt sich, dass keiner der drei wirklich verrückt ist. Die „Einsteins“ sind Geheimagenten konkurrierender Weltmächte, die sich Möbius’ Entdeckung der Weltformel sichern wollen – eine Entdeckung mit potenziell katastrophaler Wirkung.
Möbius, der sich aus ethischen Gründen in die Psychiatrie zurückgezogen hat, um seine Forschung zu verstecken, erkennt, dass er selbst mit dieser Opferbereitschaft die Ausbreitung seines Wissens nicht verhindern kann. Denn von Zahnd, die eigentliche Strippenzieherin, hat längst Kopien der Formeln angefertigt. Am Ende stehen die Physiker als Gefangene da – nicht nur in der Anstalt, sondern auch in der Logik ihrer selbstgewählten Verantwortung.
Analyse – Verantwortung der Wissenschaft im Zeitalter der Katastrophen
Dürrenmatt entwickelt sein Drama nach dem Prinzip der „schlimmst möglichen Wendung“ – einer dramaturgischen Idee, wonach jede Geschichte zu Ende gedacht werden muss. Im Fall der Physiker bedeutet das: Selbst der freiwillige Rückzug des Wissenschaftlers kann das Missbrauchspotenzial von Wissen nicht aufhalten.
Zentrale Themen des Stücks sind:
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Wissenschaftsethik: Möbius steht stellvertretend für das Dilemma vieler Forscher – zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und moralischer Verantwortung.
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Macht und Missbrauch: Das Stück zeigt, wie Erkenntnisse in den Händen von Staaten, Geheimdiensten oder Einzelpersonen gefährlich werden können.
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Wahnsinn als Schutzbehauptung: Das Spiel mit Identitäten – Newton, Einstein, Salomo – ist nicht nur Maskerade, sondern Schutz vor einer Welt, die nicht mehr zwischen Vernunft und Wahnsinn unterscheidet.
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Groteske als Stilmittel: Die Mischung aus Slapstick, absurdem Dialog und tiefem Ernst verstärkt die inhaltliche Wucht.
Sprache und Stil – Zwischen Ironie, Komik und Untergang
Dürrenmatts Sprache ist präzise, pointiert und durchzogen von schwarzem Humor. Die Komik entsteht nicht trotz, sondern wegen der Tragik: Lachen und Grauen liegen eng beieinander.
Die dialogische Struktur ist klar, das Geschehen auf einen Ort konzentriert. Der Schauplatz – ein vermeintlich sicherer Raum – entpuppt sich als Labor des Unheils. Die Irrenanstalt steht sinnbildlich für eine Welt, in der Rationalität zur Farce geworden ist und in der der Mensch seinem eigenen Wissen ausgeliefert ist.
Besonderer Abschnitt für Abiturienten – Analysehilfe, Themenkomplexe und Prüfungsrelevanz
Die Physiker gehört regelmäßig zum Pflichtprogramm in der gymnasialen Oberstufe – nicht zuletzt wegen seiner Klarheit, der aktuellen Relevanz und der Vielschichtigkeit. Für Schüler:innen besonders wichtig:
Wichtige Themenfelder:
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Die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft
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Moralische Verantwortung in einer von Technik geprägten Welt
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Dramaturgie des Grotesken und absurde Theatertraditionen
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Konflikt zwischen Idealismus und Realpolitik
Mögliche Prüfungsfragen:
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Welche Konsequenz zieht Möbius aus seiner Entdeckung und warum ist sie zum Scheitern verurteilt?
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Wie wird das Verhältnis von Wissenschaft und Macht dargestellt?
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Welche Funktion übernimmt die Figur der Mathilde von Zahnd im Stück?
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Inwiefern lässt sich das Stück als Parabel auf den Kalten Krieg und die atomare Bedrohung lesen?
Die Auseinandersetzung mit Die Physiker bietet vielfältige Möglichkeiten für schriftliche wie mündliche Prüfungen – sowohl in Hinblick auf Figurenanalyse als auch auf die gesellschaftskritische Dimension.
Zielgruppe – Für wen ist das Stück lesenswert?
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Schüler und Studierende, die sich mit Literatur des 20. Jahrhunderts und ethischen Fragen auseinandersetzen
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Lehrer, die ein klar strukturiertes, diskussionsfreudiges Werk für den Unterricht suchen
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Literaturinteressierte, die ein kompaktes, intelligentes und tiefgründiges Theaterstück lesen wollen
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Wissenschafts- und Technikethiker, die sich mit der Verantwortung von Forschung auseinandersetzen
Kritische Reflexion – Stärken und Herausforderungen
Stärken:
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Klare Struktur und zugänglicher Sprachstil
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Zeitlose Thematik mit hoher Aktualität
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Intelligente Verbindung von Komik und Ernst
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Großer Spielraum für Interpretation und Diskussion
Mögliche Herausforderungen:
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Grotesker Humor kann für manche Leser:innen schwer zugänglich sein
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Das tragische Ende verlangt eine differenzierte Lektüre
Über den Autor – Friedrich Dürrenmatt
Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) war nicht nur Dramatiker, sondern auch Erzähler, Essayist und bildender Künstler. Er prägte das deutschsprachige Nachkriegstheater maßgeblich und war ein scharfer Beobachter gesellschaftlicher Entwicklungen. Mit Stücken wie Der Besuch der alten Dame und Die Physiker verband er moralphilosophische Fragen mit einer kritischen Sicht auf Macht, Politik und Wissenschaft.
Fazit – Ein Drama, das bleibt
Die Physiker ist mehr als eine Theatergroteske – es ist ein Spiegel einer Welt, die sich mit ihrer eigenen Überlegenheit selbst entgleitet. Dürrenmatt stellt nicht nur die Frage, was Wissen kann, sondern was es darf – und was es bedeutet, wenn Kontrolle und Verantwortung nicht mehr zusammengehören.
Ein brillantes, provozierendes, tiefgründiges Werk – und ein Pflichttext nicht nur fürs Abitur, sondern für jeden, der glaubt, dass Fortschritt auch Haltung braucht.
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