Die nachweislich auf Fälschungen beruhenden "Protokolle der Weisen von Zion" gelten in antisemitischen Kreisen nach wie vor als ein Belegdokument dafür, dass wir es mit einer jüdischen Weltverschwörung zu tun haben. Gerade in aufgeheizten, unsicheren Zeiten wie die unsere eine ist, blüht das fatalistische Verschwörungsdenken wieder auf. Menschen suchen Sicherheit im Absoluten, sehnen sich danach, einem engen Kreise von Auserwählten anzugehören und somit Teil einer kleinen, wissenden Gemeinschaft zu sein, die gegen die große Mehrheit der Verblendeten ankämpft. Fakten werden mit Fiktionen geschlagen, Rationalität mit okkulten Formeln. Wie am besten dagegen angehen? Der britische Historiker Richard J. Evans hat sich in seinem Buch "Das Dritte Reich und seine Verschwörungsmythen" mit den Anfängen von "Fake News" und "alternativen Fakten" auseinandergesetzt. Neben der jüdischen Weltverschwörung betrachtet er vier weitere Erzählungen, die es bis in die Gegenwart geschafft haben und Menschen bis heute umtreiben.
Was, wenn er überlebt hat? Wenn die Geschichte von Hitlers Selbstmord und der anschließenden Verbrennung nur ein erfundener Vorwand war und der "Führer", wie es in einer sich hartnäckig haltenden Erzählungen heißt, sein Dasein fortan in Argentinien fristete. Eine ganze Akte hatte das FBI in der Nachkriegszeit angelegt, voller Berichte vermeidlicher Augenzeugen: Eine Schweizer Journalistin etwa behauptete, der Führer lebe gemeinsam mit Eva Braun in Bayern weiter. In anderen Berichtet heißt es, man hätte ihn in Albanien gesichtet. Und dann ist da noch die Geschichte eines einsamen Mann auf einer nebelverhangenen Ostsee-Insel, der doch recht stark an Hitler erinnerte.
Was aus heutiger Sicht etwas albern klingt, war für die Alliierten unmittelbar nach dem Krieg eine ernste Angelegenheit. Schließlich war der Tot Hitlers nicht zuletzt symbolisch ein entscheidendes Zeichen gewesen. Der Sieg über das Dritte Reich, in seiner Endgültigkeit, schloss eine Flucht Hitlers aus.
Die tiefen Wurzeln der Verschwörungsmythen
In seinem Buch "Das Dritte Reich und seine Verschwörungsmythen" geht der britische Deutschlandhistoriker Richard J. Evans Legenden nach, die während des Nationalsozialismus ihre Wurzeln schlugen und bis heut Anhänger auf der ganzen Welt finden. Evans, der zu den führenden Forschern auf seinem Gebiet zählt, geht von vier Verschwörungsmythen aus, die paradigmatisch für Erzählungen dieser Art stehen: Die bereits erwähnen "Protokolle der Weisen von Zion"; die Geschichte des Reichstagsbrandes; Rudolf Heß´ Englandflug und "Friedensangebot" am 10. Mai 1941 sowie Hitlers "Flucht" aus dem Bunker Mai 1945.
Dabei werden schnell Gemeinsamkeiten klar. Beispielsweise die am Anfang einer jeden Verschwörung stehende Frage: "Wem nützt das". Von dort aus geht es häufig bis in die verwinkeltsten Argumentationen, die sich zunehmend von der Realität entfernen. Wer von einer Sache profitiert, so die Annahme, der müsse sie auch notwendigerweise selbst herbeigeführt haben.
Dabei sind zwei Formen von Verschwörungstheorien-Erzählungen zu unterscheiden. Die, die sich gegen bestimmte Personen, Personengruppen, Rassen etc richten; und die, die sich eher auf Ereignisse beziehen, deren Drahtzieher sie ausfindig machen wollen. Oft handelt es sich dabei selbstverständlich um Ereignisse, die historisch von besonderer Bedeutung waren.
Das Einfache entflammt immer schnell
Die Anziehungskraft und Attraktivität nahezu aller Verschwörungstheorien liegt in ihrer Einfachheit. Komplexe Sachverhalte werden auf simple Regeln und Geschichten reduziert, der Glaubende in einen geheimen Kreis der Wissenden aufgenommen und die Zweifler als jene hingestellt, die das Einfache nicht sehen können. Am Ende sind es die dunklen Mächte, die schuld sind. Wer könnte da schon widersprechen.
Das Einfache entflammt immer schnell. Und umso schneller in einer Welt, in der es neue Distributionswege für sämtliche Informationen gibt. So flammen nationalsozialistische, antisemitische Verschwörungsphantasien heute in Social-Media-Kanälen auf, wo sie sich gegen eine demokratisch etablierte Wissenschaftskultur stellen. Selbst die Forderung nach Diskurs, das Hinterfragen, das Verifizieren und Falsifizieren werden als Hinwiese auf eine Verschwörung der blinden Anderen (Schlafschafe) aufgefasst. Die Idee, man käme mit Hilfe zwischenmenschlicher, kritischer Auseinandersetzungen weiter, wird somit grundsätzlich abgelehnt.
Liberalismus und Sozialismus als jüdische Produkte
Am eindringlichsten arbeitet sich Evans am Beispiel der "Protokolle der Weisen von Zion" ab. In dieser Schrift, die angeblich das Protokoll des 1. Zionisten-Kongresses 1887 in Basel dokumentiert, werden sämtliche antisemitische Stereotype zusammengetragen: Eine Gruppe jüdischer Weiser trifft sich, um Pläne zur Eroberung der Weltherrschaft zu schmieden. Auch die Idee, der Liberalismus und Sozialismus seien Produkte eines jüdischen Denkens sowie die Annahme, Presse und Wirtschaft würden von Juden regiert, sind hier bereits klar ausformuliert. Der Jude, so die Annahme, führe die Welt bewusst ins Chaos, um selbst davon zu profitieren.
Das die "Protokolle der Weisen von Zion" eine gefälschte Schrift ist, dies war bereits Zeitgenossen klar gewesen. Dennoch entfaltete die Schrift eine enorme Sogkraft. Damals bereits konnte man erkennen, dass Fakten und Nachweise im Kosmus der Verschwörungsmythen keinerlei Wert haben. Es geht darum, Anreize zu schaffen, eine Gruppendynamik heraufzubeschwören, zu verbinden, indem man das einfache Bild eines gemeinsamen Feindes zeichnet. Beinahe erschreckend, wie exakt sich die damaligen Tendenzen in gegenwärtigen Bewegungen wiederfinden lassen.
Richard J. Evans: "Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen"; DVA, 2021, 368 Seiten, 26 Euro
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