Anna Seghers: Ich will Wirklichkeit. Liebesbriefe an Rodi 1921–1925

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Der Ausgangspunkt dieses Buches ist ein Archivfund. Nach dem Tod seines Vaters Pierre Radványi sichtete Jean Radványi die in der Familie verbliebenen Unterlagen Anna Seghers’. Ziel war ihre Übergabe an die Akademie der Künste in Berlin. Dabei trat ein Konvolut zutage, das bislang unbeachtet geblieben war: rund 470 Briefe, Postkarten und Telegramme, geschrieben zwischen März 1921 und August 1925.

Ich will Wirklichkeit. Liebesbriefe an Rodi 1921–1925 Ich will Wirklichkeit. Liebesbriefe an Rodi 1921–1925 Anna Seghers Aufbau

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Ich will Wirklichkeit: Liebesbriefe an Rodi 1921–1925

Der Adressat: Rodi

Adressiert sind die Briefe an László Radványi, genannt Rodi. Später wird er Johann-Lorenz Schmidt heißen. In den frühen zwanziger Jahren aber ist er zwanzig Jahre alt, Student, jüdisch, aus Ungarn – und der Mittelpunkt einer Korrespondenz, von der nur eine Seite überliefert ist. Dass die Antwortbriefe fehlen, mindert die Geschlossenheit dieser Texte nicht. Im Gegenteil: Die Briefe wirken entschieden, auf Dauer angelegt, getragen von der Gewissheit, dass Beziehung etwas ist, das behauptet werden muss.

Netty Reiling vor dem Werk

Die Verfasserin nennt sich noch nicht Anna Seghers. Sie ist Netty Reiling, Anfang zwanzig, Studentin, Tochter einer jüdischen Familie aus Mainz. Ihr Leben ist in Bewegung: Studienorte wechseln, familiäre Bindungen geraten unter Spannung, die äußeren Verhältnisse erscheinen eng. In dieser Situation beginnt sie zu schreiben – nicht als literarisches Projekt, sondern als Notwendigkeit.

Der Satz, der dem Band den Titel gibt, bündelt diese Haltung: Ich will Wirklichkeit … und ich weiß außer uns nichts Wirkliches. Wirklichkeit ist hier kein gesellschaftlicher Befund, sondern ein Halt. Etwas, das nicht zerfällt. Etwas, das gehalten werden muss.

Selbstzweifel und Behauptung

In den Briefen zeigt sich früh eine Doppelbewegung. Netty Reiling beschreibt sich als verletzlich, als gefährdet, als jemand, der Schutz braucht. Zugleich tritt sie mit Entschiedenheit für ein gemeinsames Leben ein – auch gegen den Widerstand der Eltern. Diese Spannung wird nicht aufgelöst. Schreiben wird zur Form, in der Selbstzweifel und Selbstbehauptung nebeneinander bestehen.

Schreiben als Einsatz

Auffällig ist die sprachliche Verdichtung dieser frühen Texte. Gedanken werden nicht ausgeführt, sondern zugespitzt. Bilder tragen Bedeutung, ohne erklärt zu werden. Schreiben erscheint nicht als Mitteilung, sondern als Einsatz. Als etwas, das Kraft kostet und gerade darin Verbindlichkeit gewinnt. Öffentlichkeit ist kein Ziel, sondern ein Risiko. Entscheidend ist der Adressat, dem sie zutraut, auf sie Acht zu geben.

Denkraum Religion, Möglichkeit Politik

Religion bildet einen stillen Denkraum. Jüdische Tradition, metaphysische Fragen und die Suche nach Halt sind präsent, ohne programmatisch zu werden. Ähnlich verhält es sich mit der politischen Orientierung. Der Kommunismus ist noch kein festes Bekenntnis, sondern eine Möglichkeit, die mitschwingt. Beides bleibt offen, aber wirksam.

Bedeutung des Bandes

Ich will Wirklichkeit ist mehr als ein biografisches Dokument. Der Band öffnet einen präzisen Blick auf eine Phase der Formierung. Themen, die das spätere Werk Anna Seghers’ prägen werden – Bindung und Bedrohung, Treue und Widerstand, Wirklichkeit als etwas, das nicht gegeben ist, sondern errungen werden muss – sind hier bereits angelegt. Nicht als Konzept, sondern als Erfahrung.

Eine konzentrierte Bewegung: Schreiben als Haltung, Liebe als Anspruch, Wirklichkeit als etwas, das erst im Ernstfall sichtbar wird.


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