Raphael Walder : ARACHNOPHOBIE

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Falls du grad nicht zu beschäftigt,
oder gänzlich abgelenkt,
möchte ich dir rasch erzählen,
was mir unlängst zugestoßen,
in der Hoffnung, dich mit meiner
Beichte nicht zu sehr zu quälen.
Selbstzufrieden und bequem
ruhte ich im Schatten aus,
als gewaltig, doch nicht grob,
etwas meinen Leib umfasste
und mich gänzlich unerwartet
plötzlich in die Höhe hob.
Was auch immer mich gepackt,
ließ mich überraschend los,
und ich landete sogleich
nach nur kurzem, bangem Fallen
auf einer hellen Oberfläche,
die lebendig, warm und weich.
Als sich diese ringsumher
furchteinflößend um mich schloss,
biss aus aller Kraft ich zu,
was im Handumdrehn bewirkte,
dass ich wie ein Wirbelwind
in die Freiheit flog im Nu.
Du musst wissen, dass ich Schmerzen,
Unbehagen und Belastung
grundsätzlich recht gut ertrage,
und doch brauchte ich im Anschluss,
um mich gründlich zu erholen,
ein paar abgeschiedne Tage.
In dieser Zeit der Selbstbesinnung
wandelten sich meine Sinne
und die Wahrnehmung begann,
eine Art Metamorphose
unumkehrbar zu durchlaufen,
wenn man es so nennen kann.
Als ich meine Kieferklauen,
nur so ist es zu erklären,
in die plumpe Masse schlug,
nahm ich irgendetwas auf,
was sich dann in weitrer Folge
auf mein Sensorium übertrug.
Während die Empfindsamkeit
vieler altbekannter Sinne
dadurch überdeutlich schwand,
irritiert mich sehr viel mehr,
dass doch andre stärker wurden
und mancher sogar neu entstand!
An dieser Wahrnehmungsverzerrung
hatte heftig ich zu kauen,
doch noch mehr an den Gefühlen,
die Hand in Hand mit diesen Sinnen
den Verstand dir schier zerrütten
und dein Innerstes zerwühlen.



Doch so wild sie auch erscheinen,
keine dieser Emotionen
reicht in ihrer Heftigkeit
an die Urängste heran,
die mich seit dem bittren Biss
maßlos martern allezeit:
• Wer garantiert, dass ich auch morgen
oder gar in ferner Zukunft
fange noch genügend Beute,
nur weil Jagdglück mir beschieden
bisher und sich mühelos
dieses Netz gefüllt schon heute?
• Wer, dass meine Art zu spinnen
nicht zu fadenscheinig ist,
oder meine Webpräsenz
netzweit auch genug verfängt,
oder sich meine Umgarnung
abhebt von der Konkurrenz?
• Und wer, dass andre Artverwandte
mich als ebenbürtig sehen,
statt meine Schwächen zu verlachen
und als Freak mich hinzustellen,
dessen Unzulänglichkeiten
ihn zum Gespött der Spezies machen?
Ich weiß beim besten Willen nicht,
ob mir ein unheilvolles Schicksal
dieses Los bewusst beschert,
oder ob mein Leidensweg
mir durch Zufall auferlegt,
der jeden Sinn und Zweck entbehrt...
Da du nun weißt, wie's mir ergeht,
hoff ich auf echtes Mitgefühl
aufgrund der Bürde meiner Lage,
deren Ausweglosigkeit
mir meine Existenz verleidet
seit jenem schicksalshaften Tage.
Sei also dankbar für das Gift,
das ich dir vorhin injiziert,
und kostet es dich auch dein Leben,
denn wer weiß schon welchen Kummer
ich dir in deinen letzten Zügen
durch meinen Zubiss eingegeben?
Du als Beute hast es leicht,
brauchst dich still nur aufzulösen,
scheidest hin in reiner Seide,
während mein Gewissen weint
und Gedanken an die Tötung
ich um jeden Preis vermeide
Als Trost auf deinem letzten Weg
kann ich dir, mein stummes Opfer,
jedoch ohne Zweifel sagen,
dass die Moral dem Fressen
folgt und einen erst dann wieder quält,
sobald gefüllt der leere Magen.




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