Die Taube schwamm im Wasser des Hafenbeckens. Mit zunehmend hektisch anmutenden Flügelschlägen versuchte sie sich aus diesem ihr fremden Element zu befreien. Ohne Erfolg. Das Klatschen der Flügel auf die Wasseroberfläche verstärkte den Eindruck eines verzweifelten und hoffnungslosen Versuchs. Passanten, die an der Hafenpromenade entlang gingen, blieben stehen. Erst wenige, dann immer mehr, bis eine Gruppe von 20 oder mehr Menschen das Schauspiel betrachteten – Männer, Frauen und Kinder aller Altersgruppen. Das Elend des Tieres stiftete Gemeinsamkeit unter Fremden, die sonst nie miteinander geredet hätten. Allgemein wurde ein Bedauern geäußert über das Schicksal des Tieres. Mutmaßungen wurden angestellt über die Ursache seiner misslichen Lage. War es etwa krank? Schließlich entschlossen sich zwei Männer, mit Hilfe eines längeren Astes, der am Rande des Weges lag, die Taube aus dem Wasser zu ziehen. Doch vergeblich – das Hilfsmittel erwies sich als zu kurz, die Taube drohte im Gegenteil weiter in das Hafenbecken abzutreiben, wodurch jeder weitere Versuch, sie zu erreichen, unmöglich geworden wäre. Schließlich legte ein jüngerer Mann Schuhe, Hose und Hemd ab. Nur mit einer Unterhose bekleidet ließ er sich in das trübe Wasser des Hafenbeckens gleiten. Das Wasser war nicht so tief, wie man es hätte erwarten können. Es ging ihm etwa bis zur Brust und langsam konnte er sich dem Tier nähern, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, wahrscheinlich aus Furcht vor Gegenständen, die sich möglicherweise auf dem Boden des Hafenbeckens hätten befinden können. Endlich in Reichweite des Tieres, ergriff er es mit beiden Händen. Vergeblich versuchte das völlig entkräftete Tier, sich gegen den Zugriff seines Retters zu wehren. Dieser trug es vorsichtig wie eine Trophäe ans Ufer zurück. Und in der Tat gestaltete sich der Weg zurück als eine Art Triumphzug. Erste Rufe, „Bravo!“, „Gut gemacht!“, waren zu hören. Und als der Retter sich aus dem Wasser an Land zog, nicht ohne die Taube zuvor vorsichtig in eine der vielen ausgestreckten Hände gelegt zu haben, brandete Beifall auf.
„Absaufen! Absaufen!“, riefen am gleichen Tag Teilnehmer einer Kundgebung in Dresden. Es ging dabei allerdings nicht um Tauben, sondern um 234 Flüchtlinge, die von Seenotrettern im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet worden waren.