Rebecca Gablé öffnet in „Das zweite Königreich“ die Tür in ein England am Kipppunkt: 1064–1066, kurz vor und nach der normannischen Eroberung. Statt reiner Schlachtenchronik erzählt sie die Geschichte eines jungen Angelsachsen, Cædmon of Helmsby, der nach einem Piratenüberfall gezeichnet bleibt – und ausgerechnet dank seiner Sprachbegabung zwischen die Machtblöcke gerät. Ein Übersetzer als Held: Das ist die eigentliche Pointe dieses fast 900-seitigen Romans. Band 1 der Helmsby-Reihe (neu etikettiert; Ersterscheinung 2000) zählt heute zu Gablés beliebtesten Werken – eigenständig lesbar und zugleich Startpunkt einer Trilogie um die Familie Helmsby.
Das zweite Königreich von Rebecca Gablé – 1066, ein Dolch aus Worten und der Preis der Loyalität
Handlung von „Das zweite Königreich“
England, 1064. Ein Überfall dänischer Piraten zerstört Cædmons unbeschwerte Kindheit – ein Pfeil verletzt ihn so schwer, dass er hinkt. Sein Vater schickt ihn, halb aus Hoffnung, halb aus Scham, in die Normandie, die Heimat seiner Mutter. Dort wird Cædmon zum Mittler zwischen Sprachen – und damit zwischen Interessen. Zwei Jahre später kehrt er mit Herzog Wilhelm zurück. Der Rest ist Geschichtsbuch und doch völlig neu: Hastings, Krönung, ein zähes Ringen um Anerkennung des neuen Königs. Cædmon wird Übersetzer, Ratgeber und Thane – ein Bindeglied zwischen Siegernund Besiegten, das bei beiden Seiten Misstrauen weckt.
Gablé baut Konflikte nicht nur mit Schwertern, sondern mit Eiden und Gerüchten. Cædmons politische Rolle zerschellt immer wieder am Privaten: Er verliebt sich in Aliesa, die Ehefrau seines engsten Freundes Étienne und Schwester seines Feindes Lucien de Ponthieu – eine Konstellation, die in einem Hof voller Lauscher zwangsläufig Skandal ist. Als Wilhelm von der Affäre erfährt, verstösst er Cædmon zeitweise aus seiner Nähe; später, dank Cædmons Nützlichkeit, holt er ihn immer wieder zurück – so pendelt der Held zwischen Gunst und Fall, Pflicht und Gefühl. Details gespart: Der Roman entwickelt eine Reihe von Nebenfiguren, Intrigen und Ortswechseln, die man besser liest als erzählt bekommt; wichtig ist, dass Gablé die Eroberung als jahrelange Neuordnung zeigt, nicht als Feuerwerk.
Sprache als Waffe, Eroberung als Alltag
1) Sprache = Macht
Cædmon ist Dolmetscher, Autorität und Blitzableiter in einem. Jede Übersetzung wird zur Machtgeste: Welches Wort setzt man für „Barmherzigkeit“? Was lässt man aus? Gablé zeigt, wie Recht und Herrschaft sich erst sprachlichverankern – und wie gefährlich Zwischentöne sein können, wenn zwei Kulturen ein Land teilen.
2) Integration vs. Unterwerfung
Das Buch entromantisiert 1066: Die Normannen bringen Verwaltung, Kirchenreform und Gewalt. Cædmon versucht, Brücken zu bauen – zu Angelsachsen wie zu Normannen. Das Spannende ist nicht „wer recht hat“, sondern wie eine Ordnung funktioniert, wenn mindestens die Hälfte sie ablehnt.
3) Liebe als politisches Risiko
Die Beziehung zu Aliesa ist kein bloßer Plotmotor; sie beleuchtet Feudalehre und Hofmoral. Beim normannischen Hof ist Privates nie privat – und eine falsche Liaison wird zur Staatsaffäre. Wilhelms Reaktion zeigt die Pragmatik eines Herrschers, der Nützlichkeit höher bewertet als Moral – bis deren öffentliche Wirkung zu groß wird.
4) Körper & Rang
Cædmons Behinderung ist Teil des sozialen Codes: Sie markiert ihn als „anders“, zwingt ihn aber zu geistiger Wendigkeit. Gablé schreibt ohne Mitleidskitsch; das Handicap prägt Handlung und Selbstbild – nicht den Wert der Figur.
5) Loyalität, Eide, Verrat
Die Eroberung produziert neue Loyalitäten: Blut, Land, Sprache – alles wird neu gewichtet. Cædmons „Eid-Management“ ist ein roter Faden: Wem dient man, wenn alle Ansprüche plausibel klingen? Gablé macht daraus moralische Spannung statt Heldenpose.
Von Hastings bis Herrschaftspraxis
Wer 1066 nur als „eine Schlacht“ erinnert, bekommt hier Nachhilfe: Die Schlacht von Hastings ist Auftakt, nicht Abschluss. Es folgen Krönung, Landnahmen, Widerstände; Verwaltung wird zweisprachig, die Eliten umgebaut. Gablé verschmilzt Quellenwissen mit Erzählung – Wilhelm der Eroberer erscheint als despotisch-pragmatischerMachtmensch, nicht als Tafelbild. Dass Leser die Eroberung als Verhandlung begreifen, ist die stille Leistung des Buchs. (Wer nachliest, findet diese Anlage in Verlagstexten und verlässlichen Zusammenfassungen bestätigt.)
Breitwand mit Fokus
Gablé beherrscht das Kunststück, Jahrzehnte auf engem Raum spürbar zu machen. Die Kapitel montieren Hof, Dorf, Heerlager; Dialoge tragen viel Exposition, ohne lehrbuchhaft zu klingen. Der Ton ist zugänglich, die Recherchesichtbar, aber nie prahlerisch. Kritiken heben die Figurenzeichnung (Cædmon, Étienne, Aliesa) und die Rollenwechselhervor: Ratgeberehre heute, Kerker morgen – genau diese Wellenbewegung macht den Sog. Wer Gablé von den Waringham-Romanen kennt, findet hier den gleichermaßen detailreichen, klaren Erzählfluss – aber in einer früheren Epoche.
Für wen eignet sich der Roman?
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Leser historischer Epen, die Politik als Alltagsarbeit mögen.
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Buchclubs, die über Loyalität, Sprachmacht und kulturelle Integration sprechen wollen.
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Fans von Ken Follett (ohne dessen Bau-Setpieces) oder Bernard Cornwell (mit weniger Waffentechnik, mehr Hofarbeit).
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Weniger geeignet, wenn du ausschließlich Schlacht-zu-Schlacht-Tempo suchst – hier fließt Spannung oft über Rat, Recht und Beziehungen.
Stärken & Reibungen
Stärken
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Origineller Blickwinkel: Ein Übersetzer als Held öffnet neue Konflikte – Sprache wird zur Schlachtbank.
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Historische Erdung: Epochenbild und Figurenpsychologie sind balanciert – Wilhelm wirkt politisch scharf, ohne Karikatur.
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Figuren mit Grau: Freund und Feind sind rollenbeweglich – Loyalität bleibt arbeitende Größe.
Mögliche Schwächen
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Umfang & Atem: ~900 Seiten verlangen Geduld; wer komprimierte Plot-Knalle sucht, fühlt sich gelegentlich gebremst.
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Liebesdreieck: Die Aliesa-Handlung ist absichtlich melodramatisch – nicht jeder mag die Hof-Soap-Momente.
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Hoflastigkeit: Land- und Alltagsgeschichten treten phasenweise hinter Politik zurück – Geschmackssache.
Lesen mit drei klugen Fragen
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Wie „übersetzt“ Macht sich in den Alltag? (Beobachte Begriffe, Titel, Recht – wer benennt, besitzt.)
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Was ist Treue im Grenzland? (An welcher Stelle kippt Loyalität vom moralischen in den pragmatischen Bereich?)
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Wie erzählt der Roman Behinderung? (Nicht als Defizit, sondern als Prägung – was ändert das an der Heldenformel?)
Helmsby-Reihe – Reihenfolge & Link-Hub
Ja, „Das zweite Königreich“ ist Band 1 der Helmsby-Reihe. Du kannst entweder nach Erscheinung lesen oder chronologisch in-world:
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Erscheinung:
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Das zweite Königreich (2000) → 2) Hiobs Brüder (2009) → 3) Rabenthron (2025).
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Chronologisch (Spielzeit der Handlung):
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Rabenthron (1013) → 2) Das zweite Königreich (ab 1064/66) → 3) Hiobs Brüder (1147–1154).
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Bandseite „Das zweite Königreich“ (Rezension/Guide)
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Bandseite „Hiobs Brüder“ – Hintergrund The Anarchy, Identitätssuche
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Bandseite „Rabenthron“ – Spätphase Æthelred, Wikingerdruck, Königin Emma
Fazit – Die Eroberung als Verhandlung, nicht als Feuerwerk
„Das zweite Königreich“ ist kein Schlachtenroman, sondern ein Roman über die Grammatik der Macht. Cædmon gewinnt nicht, weil er der stärkste Kämpfer wäre, sondern weil er hört, versteht, vermittelt – und damit in ein Räderwerk gerät, das Privatleben und Politik zerreibt. Wer Epen liebt, die Figuren vor Feuerschlucker-Action stellen, bekommt hier einen zeitlosen Einstieg in Gablés Mittelalter-Kosmos: klug, anschaulich, spannend auf die ruhige Art. Klare Empfehlung.
Über die Autorin – Rebecca Gablé
Rebecca Gablé (*1964) ist eine der erfolgreichsten deutschen Autorinnen historischer Romane. Bekannt wurde sie mit der Waringham-Saga; daneben schrieb sie eigenständige Zyklen wie die Helmsby-Reihe (Das zweite Königreich, Hiobs Brüder, Rabenthron) und Romane wie „Der König der purpurnen Stadt“. Kennzeichen: gründliche Quellenarbeit, lebendige Dialoge, Figuren mit moralischer Reibung. Viele Titel liegen als Hörbücher vor und sind in neuen Neuausgaben verfügbar.
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