„Imperium der Schmerzen: Wie eine Familiendynastie die weltweite Opioidkrise auslöste“ ist Patrick Radden Keefes große Reportage über Herkunft, Aufstieg und Fall der Sackler-Familie – vom Pharma-Marketing der 1950er/60er (u. a. Valium) bis zur Einführung von OxyContin in den 1990ern und den juristischen wie gesellschaftlichen Nachbeben. Die deutsche Ausgabe erschien 2022 bei Hanserblau/Hanser, übersetzt von Benjamin Dittmann-Bieber, Gregor Runge und Kattrin Stier. Das Buch verknüpft Familienchronik, Unternehmensgeschichte und Public-Health-Katastrophe – erzählerisch zugänglich, faktenstark belegt.
Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe– Sackler-Dynastie, OxyContin & Opioidkrise
Worum geht es in „Imperium der Schmerzen“?
Keefe spannt den Bogen über drei Generationen. Ausgangspunkt ist Arthur Sackler, Pionier eines aggressiven Pharma-Marketings (Zeitschriftenkampagnen, Ärzte-Ansprache), dessen Vermögen und Stiftungen den Sackler-Namen an Museen und Universitäten brachten. In den 1980er/90er Jahren professionalisieren Mortimer und Raymond Sackler mit Purdue die Produktpipeline; OxyContin – ein Retard-Opioid – wird 1996 als bahnbrechende Schmerztherapiepositioniert. Keefe zeichnet nach, wie Risiken verharmlost und Suchtgefahren kleingeredet wurden, wie Vertriebsteams Ärzte mit Incentives überzogen und wie ein Milliardenmarkt entstand – während „Pill Mills“, Überdosierungen und Abhängigkeit rasant zunahmen.
Er erzählt die innerfamiliären Machtkämpfe (Philanthropie als Imagepolitik, Stiftungen, Namenspatronate) ebenso wie den Regulierungs-, Medien- und Gerichtsdruck: Enthüllungen, Vergleiche, Strafzahlungen, Insolvenz von Purdue, Auseinandersetzungen um Haftung und Namensentfernungen an Kulturinstitutionen. Das Buch endet nicht mit einem einfachen Schuld-/Sühne-Narrativ, sondern zeigt ein System aus wirtschaftlichen Anreizen, politischen Lobbys, medizinischen Diskursen – und einer Familie, die hartnäckig an der eigenen Legende arbeitete. (Konkrete spätere Prozessdetails nach 2021 sprengen den Buchzeitraum und werden unten im Kontextteil aktualisiert.)
Branding, Verdrängung, regulatorische Lücken
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Macht der Erzählung: Die Marke „Sackler“ – weltweit an Museumswänden – diente als Reputationsschutz, während die Pharma-Praxis dahinter aus Sicht Kritiker:innen Schäden externalisierte. Keefe zeigt Philanthropie als Reputations-Engineering. Spätere Namensentfernungen u. a. am Met (New York) und beim British Museum/Tate spiegeln diese Korrektur.
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Ökonomie vs. Gesundheit: Verkaufsziele, Bonusmodelle und die Verschiebung des Schmerz-Diskurses(Schmerz als „fünftes Vitalzeichen“) erzeugen eine Nachfrage, die Ärzteschaft, Versicherer und Behörden nicht schnell genug bremsten.
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Verantwortung & Haftung: Anhand interner Memos, Vergleiche und Anhörungen stellt Keefe die Frage: Wer trägt die Folgen eines Geschäftsmodells, das auf Dauerverschreibung setzt – das Unternehmen, die Manager, das System.
Von der Opioidkrise bis zu aktuellen Urteilen
Der Buchhintergrund ist die US-amerikanische Opioidkrise: OxyContin wurde – flankiert von Marketing und Vertriebsdruck – massiv verschrieben und trug zur Epidemie von Abhängigkeit und Überdosierungen bei. Keefes Recherche knüpft an seine frühere New-Yorker-Titelgeschichte über die Sacklers an. Nach der Buchveröffentlichung setzte sich der juristische Streit fort:
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Juni 2024: Der Oberste Gerichtshof der USA kassierte einen Purdue-Insolvenzplan, der den Sacklers Haftungsschutz gewährt hätte (Nicht-Konkurs-Dritte). Das Urteil stoppte den damaligen Vergleich.
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2025: Purdue legte einen neuen Plan vor. Medien berichten – je nach Quelle – über mindestens 6,5 Mrd. $Sackler-Beiträge (zzgl. weiterer Bausteine) bzw. mindestens 7,4 Mrd. $ Gesamtsumme. Die Details und Genehmigungen sind im Fluss; der Kernpunkt bleibt: Gelder für Prävention, Behandlung, Entschädigung, Streit um Haftungsfreistellung.
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Kulturelle Folgen: Große Häuser wie das Met und britische Institutionen haben den Sackler-Namen entfernt; die Debatte über Philanthropie-Ethik hält an.
Narrative Nonfiction mit investigativer Schärfe
Keefe schreibt reportagig, szenisch und quellenreich. Er montiert Interviews, Akten, Protokolle zu Kapitel-Cliffhangern, ohne ins Reißerische zu kippen. Das macht den Band zugänglich – und zugleich belegstark. Dass das Buch international ausgezeichnet wurde (u. a. der Baillie Gifford Prize 2021) und auf Best-of-Listen landete, hängt genau mit dieser Balance aus Erzählkunst und Dokumentation zusammen.
Für wen lohnt sich „Imperium der Schmerzen“ – und warum?
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Sachbuch-Leser:innen, die Wirtschaft, Politik, Medizin im Zusammenspiel verstehen wollen.
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Studierende/Professionals aus Public Health, Recht, Journalismus, Kulturmanagement – als Fallstudie zu Regulierung, Lobbying, Reputationspolitik.
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Buchclubs, die über persönliche Verantwortung vs. Systemfehler diskutieren möchten.
Kritische Einschätzung – Stärken & mögliche Schwächen
Stärken
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Systemischer Blick: Nicht nur „Täterprofil“, sondern Geflecht aus Marketing, Regulierung, Medizingeschichte, Philanthropie.
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Erzählzug: Komplexer Stoff, lesbar gemacht – ohne auf Belegfülle zu verzichten. (Preis-Echo bestätigt.)
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Langzeitrelevanz: Auch nach 2021 bleibt der Stoff aktuell (Urteile, Vergleiche, Denaming-Welle).
Schwächen
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Emotionale Zumutung: Die Schilderung von Sucht/Überdosierungen ist hart – inhaltlich notwendig, aber belastend.
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Fokus USA: Internationale Verästelungen erscheinen kürzer; wer globale Arzneimittelketten sucht, braucht Zusatzlektüre.
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Figuren-Empathie: Der sachliche Ton wahrt Distanz – moralisch klar, aber selten intim.
Warum „Imperium der Schmerzen“ jetzt lesen?
Unbedingt lesen. Imperium der Schmerzen zeigt, wie Narrative (Therapieversprechen, Marken, Mäzenatentafeln) Wirklichkeit formen – und was passiert, wenn Marktlogik in Gesundheitspolitik hineinragt. Keefe erzählt spannend und sauber belegt: Wer verstehen will, wie Konzerne, Behörden und Kultur im 21. Jahrhundert miteinander verflochten sind, findet hier ein Lehrbuch in Romanform – und eine Mahnung.
Über den Autor: Patrick Radden Keefe – Rechercheur mit Langstrecken-Atem
Patrick Radden Keefe ist Staff Writer des New Yorker (seit 2006) und Autor von u. a. „Say Nothing“, „Rogues“ und „Empire of Pain“. Für seine Arbeiten erhielt er u. a. den National Magazine Award (2014); Empire of Pain wurde mit dem Baillie Gifford Prize ausgezeichnet. Keefe verbindet Langzeitrecherche, Gerichtsakten und Narrativität – sichtbar bereits in seiner 2017er New-Yorker-Titelgeschichte über die Sacklers, die dem Buch voranging.