Zum Abschied gibt es ein Märchen. Eines ohne Happy End, aber mit Haltung. Die Dresdner Zeitschrift Signum – seit 1999 verlässlich im Halbjahrstakt erschienen – schließt ihre Pforten. Kein großes Pathos, kein literaturpolitischer Abgesang. Stattdessen ein schmales, sachlich gesetztes Heft über zwei, die ihrerseits nie den bequemen Weg wählten: Lisa Tetzner und Kurt Kläber. Oder, wie man ihn besser kennt: Kurt Held. Das letzte Signum-Sonderheft heißt schlicht Märchentochter & Rebell. Treffender lässt sich das Gespann kaum umreißen.
Märchentochter & Rebell – Abschied mit Lisa Tetzner und Kurt Kläber im letzten SIGNUM-Heft
Ein Treffen in Lauscha und der Beginn einer Allianz
Lisa, 1894 in Zittau geboren, trifft 1919 auf ihrer Wanderschaft als Märchenerzählerin durch den Thüringer Wald in Lauscha auf Kurt – laut, zottelig, überzeugt. Er verkauft Bücher, sie Geschichten. Der Rest ist keine Romanze, sondern ein Pakt. 1924 heiraten sie. Kläber, gebürtig aus Jena, schreibt für linke Verlage, wird nach dem Reichstagsbrand verhaftet. Lisa sorgt für seine Freilassung – nicht aus Naivität, sondern mit Kalkül. Wer glaubt, politische Kinderliteratur sei eine Erfindung der Achtziger, hat dieses Paar übersehen.
Fluchtpunkt Carona – Brot, Bücher, Gäste
1933: Emigration. Erst Tschechoslowakei, dann Frankreich, schließlich die Schweiz. Kein Zufluchtsort, sondern eine Probe auf Lebenszeit. In Carona entsteht die Casa Pantrova, das „Haus des Brotes“. Weniger romantisch als praktisch – ein Rückzugsort für exilierte Literatur, mit Aussicht auf die Alpen und auf das, was bleibt, wenn einem alles genommen wurde. Das Signum-Heft erzählt von dieser Zeit ohne Wehmut, aber mit Respekt. Es lässt Autor*innen zu Wort kommen, die die Gastfreundschaft des Hauses noch erlebten – und solche, die von ihrem Nachhall berichten.
Kinder mit Geschichte – und solche, die sie schreiben
Lisa Tetzners neunteilige Serie Die Kinder aus Nr. 67 (1933–1949) erzählt keine Kinderträume. Sie schildert den Alltag Berliner Kinder während der NS-Zeit – Wohnung Nr. 67 als literarische Schnittstelle zwischen Not und Normalität. Dass die Reihe in der Schweiz und später auch in der Bundesrepublik auf wenig Gegenliebe stieß, überrascht kaum. Ein Kinderbuch, das den Nationalsozialismus nicht umgeht, sondern frontal erzählt? In den 1930er Jahren eine Provokation, heute ein Dokument.
Kurt Kläber, offiziell vom Schreiben ausgeschlossen, findet mit Die rote Zora und ihre Bande einen Weg zurück. Ein Mädchen, das Widerstand nicht lernt, sondern lebt – eine Heldin ohne pädagogische Schleife. Bis heute aufgelegt, weil sie nicht gefallen will. Lisa bleibt die Impulsgeberin, auch dann, wenn ihre eigenen Bücher im Verlagskatalog langsam nach unten rutschen.
Ein Netzwerk gegen das Verschwinden
Tetzner und Kläber lebten nicht im literarischen Exil, sondern im Austausch. Ihr Briefwechsel reichte weit – bis zu denen, die heute im Kanon stehen und damals ebenfalls auf der Durchreise waren: Brecht, Mann, viele andere. Das Signum-Heft zeichnet diese Linien nach, ohne sie zu verklären. Die Schweiz war keine offene Tür, eher ein kontrolliertes Fenster. Dass Tetzner und Kläber bleiben konnten, war ein Glück – für sie, für uns.
Unvergessen durch Geschichten
Lisa Tetzner starb 1963, vier Jahre nach ihrem Mann. Beide schrieben bis zuletzt. Auch nach 1945. Auch Märchen. Auch politisch. Kein Wunder, dass Astrid Lindgren sich auf Lisa berief. Kein Wunder, dass man ihre Bücher heute in den Regalen von Großeltern findet – oder eben im Signum-Heft, das ihre Stimmen noch einmal zu Gehör bringt.
Denn dieses Heft ist kein Denkmal. Es ist ein Hinweis. Auf zwei, die Kinder ernst nahmen. Und Literatur auch.
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