Mit „Atom“, erschienen im März 2025 bei Rowohlt, wirft Steffen Kopetzky nicht bloß einen historischen Schatten auf das bereits vielfach beleuchtete Thema der deutschen Atomforschung im Dritten Reich – er kehrt vielmehr mit dramaturgischer Eleganz und einem unerwartet gradlinigen Erzählgestus zurück zu einem Genre, das zwischen Faktentreue und Fiktionalisierung balanciert. Was wie ein Agententhriller beginnt, bleibt auch einer – und gewinnt gerade dadurch an Tiefe.
Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat von Wernher von Braun: „Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension, sie ist wie ein Messer…“. Dieses Motto ist nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern der moralische Brennspiegel des Romans. Kopetzky inszeniert die Wissenschaft nicht als Licht der Vernunft, sondern als schattenwerfendes Instrument politischer Machtinteressen – messerscharf, zweischneidig.
Vom Rugbyfeld ins atomare Machtspiel
Der Einstieg in „Atom“ könnte kaum britischer sein: ein Rugbyspiel in Oxford, Gentlemen, kniende Schuljungen, dazu ein Geheimdienstmann mit Oberlippenbärtchen, der sich weniger für den Sport als für einen jungen Spieler interessiert. Dieser junge Mann, Simon Batley, ist nicht nur athletisch und diszipliniert, sondern bald auch ein Spion im Dienste Seiner Majestät. Über scheinbar harmlose Bewerbungen für Auslandsstipendien wird er nach Berlin geschickt – direkt hinein ins intellektuelle Epizentrum der Weimarer Republik.
Hier beginnt die eigentliche Mission: Batley soll Einblicke in das deutsche Atomforschungsprogramm gewinnen. Der Roman verfolgt diesen jungen Ingenieur durch ein Europa in Auflösung, durch Begegnungen mit realen historischen Figuren wie Niels Bohr, Ian Fleming und – am bedrohlichsten – SS-General Hans Kammler, eine Figur, die bereits durch ihre reale Existenz den Boden des Thrillers zu unterhöhlen beginnt. Kammler, der unter anderem für den Bau von Vernichtungslagern verantwortlich war, wird zur Chiffre für das moralische Vakuum, das Kopetzky eindrücklich skizziert.
Leichtfüßige Eleganz, strategische Verdichtung
Die Sprache des Romans wechselt zwischen erzählerischer Dichte und szenischer Leichtigkeit. Der oben zitierte Auszug vom Rugbyspiel zeigt Kopetzkys Gespür für rhythmische Prosa, die sich der Filmsprache annähert: Kameraeinstellungen, Schwenks, Großaufnahmen – hier wird nicht erzählt, hier wird beobachtet. Fast wie in einem John-le-Carré-Roman, nur mit mehr Ironie und einem durchschimmernden Faible für Britisches Understatement.
Auffällig ist Kopetzkys Mischung aus kultivierter Syntax und historischen Details, die nie als bloße Kulisse fungieren. Die geschliffene Sprache bleibt immer nah am Geschehen, auch wenn sie gelegentlich zur Eleganz neigt, die sich mehr dem Stilempfinden des Erzählten als der heutigen Gegenwart verpflichtet fühlt – ein Kunstgriff, der bewusst Distanz schafft.
Geradlinigkeit als Tarnung
Was auf den ersten Blick wie eine konventionelle Agentengeschichte erscheint, entfaltet sich zunehmend als reflektierter Beitrag zur politischen Ethik des 20. Jahrhunderts. Kopetzky spielt mit der Ambivalenz des Agentenromans: Was ist Wahrheit, was Tarnung? Und wer entscheidet über moralische Integrität, wenn jeder Beteiligte über Leichen geht – ob nun für das „größere Ziel“ oder für die „richtige Seite“?
Die Geradlinigkeit, mit der Kopetzky erzählt, ist also trügerisch. Sie ist Mittel zum Zweck. In einem Literaturbetrieb, der sich zunehmend am hybriden Roman – halbe Autofiktion, halbe Collage – berauscht, ist diese bewusste Rückkehr zur Handlung fast schon subversiv.
Einziger Wermutstropfen: Gelegentlich verliert sich der Roman in der Begeisterung für technische und historische Details. Diese stehen zwar nie im Widerspruch zur Handlung, erzeugen jedoch manchmal eine Übersättigung an Kontext, die den Lesefluss hemmen kann – besonders für Leserinnen und Leser, die eher auf Figurenpsychologie denn auf Forschungsgeschichte aus sind.
Lesenswert
„Atom“ ist ein ungewöhnlich diszipliniertes Buch. Es gibt sich als Spionageroman aus, ist aber in Wirklichkeit eine Studie über das moralische Vakuum der Moderne. Die Frage, ob Wissen neutral sei, durchzieht jede Szene, jede Begegnung – bis hinein in die Dialoge und Schauplätze. Wer sich von Kopetzkys Roman unterhalten lassen will, wird auf hohem Niveau unterhalten. Wer mehr erwartet, bekommt eine klug durchdachte, historisch fundierte und stilistisch versierte literarische Auseinandersetzung mit der Frage, was Wahrheit und Moral im Zeitalter wissenschaftlicher Ambivalenz bedeuten können.
Zum Autor
Steffen Kopetzky, geboren 1971, hat sich in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht als Romancier, der historische Stoffe mit zeitgenössischer Relevanz zu verbinden weiß. Mit „Risiko“ und „Propaganda“ hat er bewiesen, dass große politische Romane aus Deutschland kommen können, ohne den Pathos der Vergangenheit zu überdehnen. Mit „Atom“ knüpft er daran an – diesmal mit der ruhigen Hand eines Autors, der weiß, wie man Spannung erzeugt, ohne laut zu werden.
Hier bestellen
Topnews
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich
Romanverfilmung "Sonne und Beton" knackt Besuchermillionen
Asterix - Im Reich der Mitte
Rassismus in Schullektüre: Ulmer Lehrerin schmeißt hin
14 Nominierungen für die Literaturverfilmung "Im Westen nichts Neues"
"Die Chemie des Todes" - Simon Becketts Bestsellerreihe startet bei Paramount+
Aktuelles
Sonnenhang – Kathrin Weßlings radikaler Roman über ein Leben im Stillstand und den schmerzhaften Mut zum Weitergehen
An der Grenze – Was wirklich an Deutschlands Grenzen passiert: Ein Insider deckt die Flüchtlingskrise auf
Max Frisch: Ein kosmopolitischer Denker im 21. Jahrhundert
Atom von Steffen Kopetzky
„Die Suchtlüge – Sucht überwinden ohne Willenskraft“
Die Verwandlung von Franz Kafka – Das Drama des Unnützen im Zeitalter der Selbstoptimierung
„The Serpent and the Wings of Night – Der beste Vampirroman für Dark-Fantasy-Fans
„Freundschaft kennt kein Alter“ – Warum dieses Buch von Rashid Hamid unser Denken über Generationen verändert
Die Abenteuer des Werner Holt von Dieter Noll
Das letzte Aufgebot von Moritz Seibert
Klick Klack, der Bergfrau erwacht
Nadja Abd el Farrag: „Achterbahn – Eine Biografie“
„Eileen“ von Ottessa Moshfegh – Eine tiefgründige Charakterstudie der dunklen menschlichen Abgründe
Warum scheitern Nationen? – Eine tiefgründige Analyse von Daron Acemoglu und James A. Robinson
„Nur noch ein einziges Mal“ von Colleen Hoover – Eine schonungslose Geschichte über Liebe, Gewalt und die Kraft des Neuanfangs
Rezensionen
John Irving „Der letzte Sessellift“ – Queeres Leben, Geister der Vergangenheit und Amerikas verdrängte Wahrheiten
„Die Einladung“ von Sebastian Fitzek – Eine intensive Reise in die Abgründe der menschlichen Psyche
„Mama, erzähl mal!“ von Elma van Vliet – Das besondere Erinnerungsbuch zum Ausfüllen und Verschenken
Marlene von Hanni Münzer – Die fesselnde Fortsetzung der Honigtot-Saga über Mut, Widerstand und Schuld
"Die Enkelin" von Bernhard Schlink – Rezension zum Roman über DDR-Erbe, Identität und familiäre Schuld
„Das Reich der sieben Höfe – Dornen und Rosen“: Warum Sarah J. Maas’ Fantasy-Hit mehr als nur Romantasy ist
