Claudia Dvoracek-Iby: Das Mädchen

Vorlesen

„Übrigens“, Cocos Hundesitterin setzt sich unaufgefordert auf die Bank zu mir, „heute hat mir die Reinweiß eiskalt mitgeteilt, dass ich vorläufig“ - sie zeichnet Anführungszeichen in die Luft - „nicht mehr gebraucht werde. Ab morgen kommt jemand anders mit Coco hierher. Eine junge Ukrainerin. Die Reinweiß haben sie bei sich aufgenommen. Naja, Platz und Geld haben die ja mehr als genug. Aber wie sich die Reinweiß mit ihrer guten Tat brüstet - zum Kotzen ist das! Ich habe gehört, wie sie ins Handy geflötet hat: ‚Natürlich helfen wir, wann immer wir können. Und darum bieten wir dieser armen jungen Frau gerne ein vorläufiges Zuhause bei uns an.‘ Also ehrlich, bisher habe ich bei der Reinweiß keine Spur von Herzenswärme bemerkt. Geizig und ungut ist die! - Aber wie auch immer, heute Morgen habe ich der Ukrainerin die Umgebung gezeigt, auch die Hundezone hier. Sie ist nett, spricht perfektes Deutsch, hat es in ihrer Heimat als Zweitsprache gelernt. Und sie kommt sehr gut mit Coco zurecht.“

„Okay, alles klar“, sage ich knapp. Die Hundesitterin nervt mich. Textet mich da ungefragt mit Sachen zu, die mich null interessieren und mich nichts angehen. Außerdem ist mir völlig egal, wer mit Coco in die Hundezone kommt. Unsere Hunde spielen hier gerne miteinander, und ausschließlich darum geht es. Wobei unsere Hunde nicht richtig ist. Es sind nicht unsere Hunde. Coco gehört der Reinweiß, und Kiro wird immer Annas über alles geliebter Spaniel bleiben, auch wenn er seit drei Monaten und drei Tagen o`iziell mein Hund ist.

„Also dann“, nickt mir die Hundesitterin zu, ruft Coco, leint den weißen Pudel an. Und dann sagt sie, schon im Weggehen:

„Und nicht erschrecken morgen. Das Mädchen schaut Anna sehr ähnlich.“

Dieser unerwartete letzte Satz versetzt mir einen Stich in der Herzgegend. Es ist das erste Mal, dass die Hundesitterin Annas Namen ausspricht. Ich wusste nicht, dass sie ihn kennt.

„So was Dummes“, sage ich leise, als sie mit Coco schon um die Straßenecke verschwunden ist, „Niemand schaut Anna ähnlich“, und zwinkere wütend ein paar aufsteigende Tränen weg.

*

Tags darauf, als ich mit Kiro die Hundezone betrete, sehe ich sie sofort. Bei ihrem Anblick werden meine Knie weich, und mir bleibt kurz die Luft weg. Die Hundesitterin hatte recht. Das ukrainische Mädchen sieht Anna sehr ähnlich. Und zwar so sehr, dass ich für einen kurzen schönen Moment tatsächlich denke, es wäre Anna. Ich bin fassungslos. Zum Glück schaut das Mädchen aufmerksam auf die beiden Hunde, die sich stürmisch begrüßen, bemerkt darum nicht, dass ich es ungläubig anstarre: Dasselbe herzförmige

Gesicht wie Anna, die hohen Wangenknochen, die dunklen Augen, die schulterlangen brünetten Locken, die zarte Figur. Ich brauche ein paar Minuten, um mich zu fangen. Dann scha`e ich es, auf das Mädchen zuzugehen, ihm stotternd zu erklären, dass die Hunde sich gut kennen und jeden Tag um diese Zeit hier miteinander spielen.

„Ich bin Marlen“, sage ich.

Das Mädchen nickt ernst und sagt kein Wort.

Wenig später sitzen wir nebeneinander auf der Bank in der Sonne und schauen still den Hunden beim Herumtoben zu. Mir ist, als ob ich neben Anna sitzen würde, spüre Wellen von Vertrautheit und Trost zwischen uns beiden hin und her strömen. Als das Mädchen nach ungefähr einer Stunde aufsteht, Coco anleint, und sich zum Gehen anschickt, sage ich fragend: „Bis morgen?“

Das Mädchen nickt. Dann lächelt es mich an, aber der Ausdruck seiner Augen bleibt ernst. Wie bei Anna. Ich sehe dem Mädchen nach, und als es mit Coco außer Sichtweite ist, kämpfe ich so wie gestern mit den Tränen.

*

Wochenlang tre`en wir uns tagtäglich um dieselbe Zeit in der Hundezone. Wir reden nie miteinander, sitzen aber immer nebeneinander auf der Bank, teilen uns wortlos Süßigkeiten und Zigaretten, spazieren still Seite an Seite mit den Hunden die Wege der Hundezone entlang. Unser Schweigen ist mir nie unangenehm, im Gegenteil. Und auch das Mädchen wirkt einverstanden, ja, zufrieden in der Stille, mit der wir beide uns umgeben. Ich bin froh darüber, dass ich weder weiß, wie das Mädchen heißt, noch sonst irgendetwas von ihrem Leben. So kann ich Tag für Tag ungestört imaginieren, dass nicht das Mädchen, sondern Anna neben mir ist.

*

An einem Freitag sind sie und Coco nicht da. Vielleicht ist sie krank geworden, denke ich besorgt. Auch am nächsten Tag läuft Kiro kein Coco entgegen, und ich sehe kein Mädchen, das wie Anna aussieht. Am Sonntag ist die Hundesitterin mit Coco in der Hundezone.

„Aber - wo ist denn das ukrainische Mädchen? Ist sie krank geworden?“, frage ich beunruhigt. Die Hundesitterin zuckt mürrisch die Schultern, sagt, sie wisse nichts. Und nein, sie habe keine Handynummer von dem Mädchen. Ich lasse mir von ihr die Telefonnummer und die Adresse von Frau Reinweiß geben.

Nach einer unruhigen Nacht entschließe ich mich, nicht anzurufen, sondern zu den Reinweiß zu fahren - in der Ho`nung, dort das Mädchen zu sehen. Wenig später stehe ich vor einem hohen weißen Gartentor im Villenviertel der Stadt. Ich läute, starre nervös auf das goldene Schild, in das Fam. Reinweiß graviert ist.

Wenig später sitze ich in einem luxuriösen Wohnzimmer Frau Reinweiß, einer superschlanken, eleganten Frau um die fünfzig, gegenüber. Ich erkläre ihr stockend, dass das ukrainische Mädchen und ich uns in der Hundezone angefreundet hätten, ich mir nun Sorgen mache, und mich erkundigen wolle, ob mit dem Mädchen alles in Ordnung sei.

Frau Reinweiß antwortet im bitteren Tonfall: „Leider ist gar nichts in Ordnung. Vorigen Freitag frühmorgens war sie plötzlich weg, ist einfach still und heimlich ausgezogen. Ohne Nachricht, ohne Dank, ohne sich zu verabschieden. Und sie hat o`enbar ihre Handynummer gewechselt, da sie nicht erreichbar ist. Sie hat uns im Stich gelassen.“

Mir wird schwindlig. „Aber - wie meinen Sie das mit ‚im Stich gelassen‘?“, frage ich verwirrt. „Sie haben sie doch aufgenommen, um ihr zu helfen, um ihr ein Zuhause zu bieten, oder?“

„Ja, ja, natürlich.“ Frau Reinweiß schaut mich kühl an. „Aber sie hat sich selbstverständlich nützlich gemacht, gegen Kost und Logis. Ich benötigte keine Putzfrau und keinen Hundesitter mehr, seitdem sie bei uns war. Doch jetzt -“.

„Wo wohnt sie jetzt?“ Wut steigt in mir auf, meine Hände ballen sich unter dem Marmortisch zu Fäusten.

„Woher soll ich das wissen? Wie gesagt, sie ist ohne Erklärung verschwunden. Eine äußerst undankbare Person. Ist es nicht so, Marius?“, wendet sie sich an einen hageren Mann in ihrem Alter, o`enbar Herrn Reinweiß, der vor einer Minute ins Wohnzimmer gekommen war.

Dieser räuspert sich statt einer Antwort, weicht meinem Blick aus. „Aber ich muss sie finden! Wir sind befreundet“, sage ich.

„In diesem Punkt können wir Ihnen nicht helfen“, sagt Frau Reinweiß reserviert, schaut auf ihre Armbanduhr, steht auf. „Ich muss mich jetzt auch verabschieden.“

„Ich begleite Sie zum Gartentor“, sagt Herr Reinweiß zu mir.

*

„Tun Sie mir bitte einen Gefallen“, sagt Herr Reinweiß, nachdem wir schweigend bis zum Gartentor gegangen sind. „Falls Sie das Mädchen finden, richten Sie ihr von mir aus, dass - dass es mir leidtut -.“ Er stockt, wischt sich plötzlich auftretenden Schweiß von der Stirn.

„Dass Ihnen was leidtut?“, frage ich alarmiert.
Er wird rot.
Und ich sehe plötzlich rot, schreie: „Was haben Sie mit ihr gemacht?“

„Seien Sie doch ruhig, um Himmels willen“, sagt er nervös. „Ich habe gar nichts mit ihr gemacht. Ich wollte sie nur trösten, habe sie in den Arm genommen. Weil sie so einsam

wirkte, kaum ein Wort gesprochen hat. Ich meinte vorhin, dass es mir leidtut, falls sie meine Umarmung falsch aufgefasst hat.“

Ich sehe ihn an. Sein Blick flackert. Er wirkt traurig und verzweifelt, er wirkt genauso, wie ich mich fühle.

„Was haben Sie mit ihr gemacht?“, frage ich wieder, nun leise. „Ich bitte Sie. Erzählen Sie mir alles. Ich verspreche Ihnen, ich werde es niemandem sagen, nicht ihrer Frau, niemandem. Ich will nur wissen, warum sie verschwunden ist.“

Er sieht mich zweifelnd an, dann sagt er verlegen:

„Also gut. Es war so, dass - ja, dass etwas an ihrer Art, etwas in ihrem Blick mich an jemanden erinnert hat. An Marie, meine – meine Jugendliebe. Ich wollte sie nur einmal in meinen Armen halten. Nur einmal. Und mir dabei vorstellen, sie wäre Marie. Verstehen Sie? - Am nächsten Morgen war sie weg. Ich weiß ni - “

Ich kann - ich will kein Wort mehr hören, laufe los, lasse ihn an seinem weißen Tor stehen, und laufe, laufe, laufe. Wie sehr ich mich schäme. Wegen ihm. Wegen mir. Ich habe nicht gewusst, wie furchtbar es sich anfühlt, sich so sehr zu schämen.

*

Drei Wochen später sitzt das Mädchen - ich traue meinen Augen nicht - auf unserer Bank in der Hundezone und streichelt Coco. Die Hundesitterin steht mit verschränkten Armen daneben. Kiro saust sofort zu ihnen, ich gehe langsam hinterher. Das Mädchen lächelt mir entgegen.

Ich setze mich zu ihr. Zuerst schweigen wir, wie wir es immer getan haben. Dann muss ich weinen, ich sehe sie an, sage schluchzend: „Es tut mir so leid. Bitte verzeihe mir. Es tut mir so entsetzlich leid.“

Sie sagt bestürzt: „Aber - ich verstehe nicht. Was tut dir leid? Du hast doch nichts getan.“

Ihre Stimme klingt völlig anders als Annas Stimme. Melodischer und tiefer. Ein leichter Akzent.

„Doch, ich – ich habe dich benutzt!“, bricht es aus mir raus. „Ich habe mich nicht für dich interessiert, wollte nichts über dich, nichts von deinem Leben wissen. Weil du meiner Schwester Anna sehr, sehr ähnlich siehst. Anna ist vor drei Monaten gestorben. Sie - hatte einen Autounfall. Wenn ich mit dir zusammen war, habe ich mir immer vorgestellt, du wärest Anna. Darum habe ich nie mit dir geredet. Nicht einmal nach deinem Namen habe ich dich gefragt, aber -.“

Das Mädchen unterbricht mich, indem es meine Hand in seine nimmt, und sagt: „Bitte, Marlen, sei nicht so streng mit dir. Ich verstehe dich.“

Ich muss schlucken, muss weiterreden, muss alles loswerden: „Ich möchte dir sagen, dass ich jetzt anders denke, ganz anders. Anfangs, als du verschwunden warst, dachte

ich ständig: Nun habe ich Anna ein zweites Mal verloren. Aber dann dachte ich an dich, dass ich dich verloren habe, ohne dich kennen gelernt zu haben. Und das möchte ich so gerne. Dich kennenlernen. Bitte sag mir, wie du heißt.“

Sie drückt leicht meine Hand, hält sie fest in ihrer.

„Also, ich heiße Darya, und ich komme aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Kiew. - Ich habe vor einem halben Jahr Alik, meinen Bruder, im Krieg verloren, darum weiß ich, was du wegen Anna durchmachst. Wenn ich dich an deine Schwester erinnere und dich meine Gegenwart tröstet, freut mich das. Und, Marlen, ich war froh, dass du mich nichts gefragt, nichts mit mir geredet hast. Ich brauchte dringend Ruhe, und hatte den Eindruck, du ebenfalls. - Und ich habe mich immer wohl mit dir gefühlt, fühlte von Anfang an eine gute Verbindung zu dir. Darum bin ich jetzt auch hier, um dich wiederzusehen.“

*

Im Gegensatz zu den ersten stillen Wochen können und wollen wir jetzt gar nicht aufhören, miteinander zu sprechen. Während wir durch die Hundezone spazieren, erzählt mir Darya von Alik, und ich ihr von Anna. Episoden aus unseren beiden Kindheiten mit den geliebten, verstorbenen Geschwistern. Später dann, als ich Darya von meinem aufwühlenden Besuch bei den Reinweiß erzähle, schüttelt sie den Kopf.

„Herr Reinweiß war immer nett zu mir. Und er hat mich in keiner Weise belästigt. Aber seine Frau -“ Darya seufzt. „Naja, ich musste sehr viel arbeiten, im Haus und Garten. Aber das war nicht der Grund, dass ich so überstürzt weggegangen bin. Eines Abends, als Herr Reinweiß außer Haus war, unterstellte sie mir völlig hysterisch, dass ich etwas mit ihrem Mann anfangen wolle. Sie brüllte mich an, beleidigte mich. Das war mir dann echt zu viel. – Aber, was eigenartig ist: Ich habe meine Handynummer nicht gewechselt. Da hat die Reinweiß wohl gelogen. Ich möchte das alles unbedingt richtigstellen, auch wenn es nicht angenehm für alle Beteiligten ist.“

Ich nicke, sage: „Wenn du möchtest, unterstütze ich dich dabei.“
Darya strahlt mich an: „Ja! Das würde mir die Sache sehr erleichtern.“
„Aber wo bist du damals dann mitten in der Nacht hin? Wo wohnst du jetzt, Darya?“

„Ich habe noch am selben Abend mit einer Bekannten telefoniert. Sie hat mich zum Glück bei sich aufgenommen, obwohl sie nur eine sehr kleine Wohnung mit ihren zwei Kindern hat. Aber vorübergehend geht es ... “

„Darya, du könntest doch zu mir und Kiro ziehen. Weißt du, ich habe mir die Wohnung mit Anna geteilt. Und meine Wohnung ist furchtbar leer, seit sie ... “

Und dann kann ich nicht mehr weiterreden, weil Darya mich ganz fest umarmt.

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