Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte von Ulli Lust ist weit mehr als ein kulturhistorisches Sachbuch – es ist ein künstlerisch verdichtetes und analytisch pointiertes Manifest. Die renommierte österreichische Comiczeichnerin, bekannt für ihre autobiografischen und gesellschaftskritischen Werke, setzt sich hier in Form eines Sachcomics mit der Rolle der Frau in der Frühgeschichte auseinander. Es geht um die Repräsentation, Entwertung und unsichtbare Macht weiblicher Figuren in einer historisch patriarchal überformten Deutungstradition.
Die Frau als Mensch – Von Eva bis heute: Eine radikale Neuschreibung der Menschheitsgeschichte
Worum geht es in Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte – Zwischen Mythos, Macht und Marginalisierung
Das Buch folgt einem glasklaren Narrativ: Die Frau war zu Beginn der Geschichte nicht die Nebenfigur des Mannes – sondern die zentrale Instanz von Fruchtbarkeit, Ordnung und Kult. Anhand archäologischer, ikonographischer und literarischer Quellen entfaltet Ulli Lust ein Panorama weiblicher Macht, das über Jahrtausende verschüttet, verleugnet oder umgedeutet wurde.
Besonders im Fokus stehen archäologische Funde wie weibliche Figurinen aus der Eiszeit, die nicht nur kultische, sondern auch gesellschaftliche Bedeutung hatten. Ulli Lust interpretiert diese Darstellungen als Belege für eine zentrale Rolle der Frau in prähistorischen Gesellschaften. Zugleich verbindet sie diese historischen Perspektiven mit persönlichen Reflexionen und schafft so eine vielschichtige, tiefenscharfe Erzählung.
Frau, Macht, Erinnerung
Das Buch operiert entlang dreier zentraler Achsen:
-
Archäologie der Verdrängung: Die Autorin seziert, wie und warum weibliche Spuren aus Texten, Artefakten und Mythen entfernt oder uminterpretiert wurden.
-
Dekonstruktion religiöser Narrative: Besonders die biblische Schöpfungsgeschichte wird als ideologisches Fundament einer patriarchalen Ordnung entlarvt.
-
Weibliches Wissen: Von Hebammen bis zu Priesterinnen – das Buch rehabilitiert weibliche Wissensformen, die systematisch als irrational, gefährlich oder unrein gebrandmarkt wurden.
Warum dieses Buch jetzt?
Die Frage „Was ist eine Frau?“ hat in jüngster Zeit neue Dringlichkeit erhalten – im Kontext von Gender-Debatten, feministischer Theorie und Identitätspolitik. Dieses Buch setzt nicht bei der Gegenwart an, sondern gräbt tiefer: Es fragt, wie diese Diskurse historisch überhaupt möglich wurden – und welche Lügen sie tragen.
In einer Zeit, in der Feminismus zu oft als Lifestyle und weniger als Strukturkritik diskutiert wird, liefert Die Frau als Mensch eine intellektuelle Rückvergewisserung: Wer verstehen will, warum die Geschichte so erzählt wurde, wie sie ist, muss sie zuerst anders lesen.
Essayistisch, gezeichnet, pointiert
Lust kombiniert wissenschaftliche Erkenntnisse mit künstlerischer Gestaltung. Ihre Sprache ist durchzogen von Analogien, quellenbasierten Miniaturen und klaren Aussagen, während ihre Zeichnungen das Argumentative visuell aufladen. Besonders bemerkenswert ist ihre schonungslose Darstellung von Themen wie Menstruation und Sexualität – nicht zur Provokation, sondern zur Enttabuisierung.
Für wen lohnt sich die Lektüre?
Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich für Geschichte jenseits des Mainstreams interessieren. Ideal für Leser:innen mit Interesse an Geschlechtertheorie, Religion, Anthropologie und Kulturkritik. Es eignet sich für feministische Lesekreise ebenso wie für bildungsbürgerliche Bibliotheken, die das Kanonische befragen wollen.
Warum "Die Frau als Mensch" ein Schlüsseltext unserer Zeit ist
Dieses Buch ist kein modischer Debattenbeitrag, sondern ein substanzieller, historisch fundierter Gegentext zur männlich dominierten Geschichtsschreibung. Es trifft einen Nerv: In Zeiten wachsender Unsicherheit über Geschlechterrollen, institutionelle Legitimität und kulturelles Erbe bietet dieses Werk eine erzählerisch und wissenschaftlich dichte Grundlage, um Gegenwart zu verstehen.
Es liefert argumentative Munition für all jene, die die vermeintliche Natürlichkeit von Machtverhältnissen in Frage stellen. Und es entlarvt das Patriarchat nicht als böswillige Ausnahme, sondern als stillschweigende Konstante historischer Erzählung – mit all ihren Folgen für Recht, Religion, Wissenschaft und Familie.
Zwischen Befreiung und Komplexitätsverlust
Die Stärke des Buches liegt in seiner klaren These: Es nimmt keine Umwege, sondern legt offen, was andere überdecken. Die Gefahr dabei: Es verführt zur Monokausalität. Nicht jedes kulturelle Artefakt ist bloß Beleg für patriarchale Manipulation.
Doch dieser Vorwurf ist zweitrangig angesichts der Tatsache, dass das Buch eine jahrtausendelange Perspektivverengung aufbricht. Es schafft ein Gegengewicht, das nötig ist – nicht als abschließende Wahrheit, sondern als notwendiger Kontrapunkt.
Über die Autorin – Ulli Lust
Ulli Lust, geboren 1967 in Wien, ist eine vielfach ausgezeichnete Comiczeichnerin, Illustratorin und Autorin. Internationale Bekanntheit erlangte sie mit ihrer autobiografischen Graphic Novel Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens, die u.a. mit dem Max und Moritz-Preis sowie dem Prix Révélation des Festival d’Angoulême ausgezeichnet wurde. Ihr Werk zeichnet sich durch schonungslose Offenheit, feministische Perspektiven und eine feinsinnige Verschränkung von Text und Bild aus.
Mit Die Frau als Mensch hat sie erstmals ein explizit kulturhistorisches Sachbuch im Comicformat vorgelegt – eine meisterhafte Verbindung von künstlerischer Erzählweise und wissenschaftlichem Anspruch. Lust lebt und arbeitet in Berlin.
Geschichte als politische Praxis
Die Frau als Mensch ist ein Buch, das Denken verschiebt. Es nimmt den Leser mit auf eine Reise zu den Anfängen des kulturellen Gedächtnisses – und kehrt zurück mit einer Frage: Was wäre, wenn wir alles falsch erinnert haben? Wer auf der Suche nach einer radikal neuen Lesart der Menschheitsgeschichte ist, findet hier eine kluge, unbequeme und äußerst notwendige Antwort.
Topnews
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Darm mit Charme von Giulia Enders – Ein Sachbuch, das den Bauch rehabilitiert
50 Sätze, die das Leben leichter machen von Karin Kuschik– Kleine Sätze, große Hebel
Nemesis’ Töchter von Tara-Louise Wittwer - Wenn Wut nicht zerstört, sondern verbindet
Wot Se Fack, Deutschland? (Vince Ebert): Warum Gefühl und Verstand sich in die Quere kommen
Organisch (Giulia Enders): Was es wirklich bedeutet, auf den Körper zu hören
The Big Short von Michael Lewis-: Wie wenige Außenseiter den Subprime-Wahnsinn durchschauten
Sam Bankman-Fried – Die Geschichte eines amerikanischen Albtraums von Michael Lewis
Wie man Freunde gewinnt von Dale Carnegie | Warum dieser Klassiker seit 1936 wirkt
Dieses Buch verändert dein Leben für immer (Martin Wehrle): 52-Schritte-Ratgeber für mehr Lebensfreude
Dein Körper, dein Verantwortung: Warum Verhalten der Schlüssel zur Heilung ist
Letzte Chance von Robin Alexander – Merz’ Kanzlerstart und der Balanceakt für unsere Demokratie
Die Kunst, Recht zu behalten: Schopenhauers eklatanter Rhetorik-Guide
Ikigai: Das japanische Geheimnis für Lebenssinn, Gesundheit & Zufriedenheit
„Der Pinguin, der fliegen lernte“ von Eckart von Hirschhausen – Warum diese Lebensgeschichte bewegt, inspiriert und doch nicht ganz überzeugt
„Hase und ich“ von Chloe Dalton – Rezension: Ein literarischer Blick auf Nähe, Natur und stille Erkenntnis
Aktuelles
Qwert von Walter Moers – Ritterrüstung, Dimensionsloch, Herzklopfen
The Gingerbread Bakery von Laurie Gilmore – Zimt in der Luft, Funkstille im Herzen
Matthias Aigner: Nachtgedanken
Darm mit Charme von Giulia Enders – Ein Sachbuch, das den Bauch rehabilitiert
Wenn die Sonne untergeht von Florian Illies– Ein Sommer, der eine Familie und eine Epoche auf Kante näht
Apfelstrudel-Alibi (Rita Falk)– Eberhofer ermittelt zwischen Südtirol, Schnodder und Susi im Bürgermeisteramt
Richie Flow: Sommer 2018
David Szalay gewinnt den Booker Prize 2025 für „Flesh“
Muttertag von Nele Neuhaus – Ein Taunuskrimi über Mütter, Masken und die langen Schatten der 90er
Der Augensammler Sebastian Fitzek – 45 Stunden, ein Killer mit Ritual und zwei Ermittler, die ihre eigenen Geister kennen
Sergej Siegle: Pilgerlieder, Hamburg
Dr. Margit Engelman:Momentaufnahmen während meines Aufenthaltes in einer Reha- Klinik im Juli 2025
Playlist von Sebastian Fitzek – 15 Songs, ein vermisstes Mädchen, ein Wettlauf gegen die Zeit
Rabenthron von Rebecca Gablé – Königin Emma, ein englischer Junge, ein dänischer Gefangener:
Frank Hammerschmied: Das zerbrochene Herz und der Engel
Rezensionen
Hiobs Brüder von Rebecca Gablé – Die Anarchie, acht Ausgestoßene und die Frage
Das zweite Königreich von Rebecca Gablé – 1066, ein Dolch aus Worten und der Preis der Loyalität
Wedding People Alison Espach – Luxus-Hotel, Katastrophenwoche, zweite Chancen
Buckeye von Patrick Ryan – Ein kleiner Ort, zwei Familien, Jahrzehnte voller Nachhall
Nobody’s Girl von Virginia Roberts Giuffre – Wenn eine Stimme keine Bühne mehr braucht
50 Sätze, die das Leben leichter machen von Karin Kuschik– Kleine Sätze, große Hebel
Beauty and the Bachelor von Kelly Oram – Reality-TV, ein CEO mit Countdown und eine Stylistin, die nicht „die Rolle“ spielt
Mein Herz in zwei Welten von Jojo Moyes – Von der Hummelhose nach Manhattan
Ein ganz neues Leben von Jojo Moyes – Trauerarbeit mit Tempo: Wenn Weiterleben kein Verrat ist
Ein ganzes halbes Jahr Jojo Moyes – Wenn Hoffnung und Selbstbestimmung an einem Tisch sitzen
Mein Leben in deinem von Jojo Moyes – High Heels, tiefe Risse
Zurück ins Leben geliebt von Colleen Hoover – Regeln, die Herzen brechen