In der 27. Ausgabe der Reihe Tierstudien widmet sich Herausgeberin Jessica Ullrich dem, was sonst kaum Sichtbarkeit erhält – jenen tierlichen Existenzen, die in, auf oder mit der Erde leben, aber selten im Zentrum ökologischer Debatten stehen. Erdlinge ist kein Handbuch der Zoologie, sondern ein vielstimmiges Plädoyer für ein neues Denken vom Boden her: poetisch, kritisch, interdisziplinär. Was dabei verhandelt wird, ist nicht weniger als eine Revision des Anthropozentrismus – aus Perspektive der Milben, Käfer und Mikroben.
Im Mittelpunkt stehen Tiere, „die in oder unter der Erde leben oder die von der prekären Situation der Böden besonders betroffen sind“. Die Beiträge folgen dabei keinem didaktischen Raster, sondern arbeiten mit je eigenen ästhetischen, theoretischen und wissenschaftlichen Mitteln – von akustischen Soundscapes über Bodengerüche bis hin zu Regenwurm-Diplomatie.
Vom politischen Regenwurm zur olfaktorischen Kompostethik
Der Band beginnt mit zwei theoretischen Grundierungen, die durchaus als terrestrisches Manifest gelesen werden können: Markus Schroer kritisiert die kulturelle Abwertung des Unterirdischen, Filippo Bertoni entwirft eine Politik der Koexistenz, die sich am Leben der Würmer orientiert. Was zunächst absurd klingt, erweist sich beim Lesen als präzise formulierte Kritik an Hierarchien im ökologischen Denken – und eine Einladung, von metabolischen Prozessen wie dem Kompostieren zu lernen.
Martin Ullrich lotet in seinem Beitrag Sound in the Ground die akustische Dimension des Erdreichs aus und formuliert das Desiderat einer mehr-als-menschlichen Musikwissenschaft. Julia Katharina Thiemann wiederum analysiert Gerüche des Bodens und versteht sie als ästhetische Schnittstelle zwischen Kunst und Ökologie.
Die literarischen Abschnitte widmen sich u.a. Marlen Haushofer und Jan Wagner. Nicola Kopf deutet Haushofer als Autorin eines „erdnahen Schreibens“, das mit Donna Haraways Begriff „symchthonischer Geschichten“ lesbar wird. Laura M. Reiling zeigt in Close Readings, wie Wagners Lyrik den Fokus auf einzelne Tiere lenkt – nicht als Gattung, sondern als Subjekt.
Knochen, Kompost, Kapital: Ästhetiken und Erdpolitiken
Stark und bildgewaltig sind die künstlerischen Positionen im zweiten Teil des Bandes. Claire Pentecosts Soil-Erg – ursprünglich auf der dOCUMENTA(13) gezeigt – imaginiert eine Währung aus Erde, die in Form von „Goldbarren“ kapitalistische Bodenverwertung unterwandert. Auf den Scheinen: Porträts von Erdlingen, tierlich wie menschlich – darunter Charles Darwin, Donna Haraway, Rachel Carson und Franz Kafka.
Jenny Kendler lässt in Herd Not Seen eine Miniaturbisonherde aus erdverpressten Figuren entstehen, die später von Besucher*innen in Präriegebiete zurückgeführt werden – als ökologische Saatbomben gegen das Vergessen. Daro Montags Bioglyphen wiederum dokumentieren mikrobiologische Aktivität direkt auf analogem Filmmaterial: keine Bilder von Erde, sondern Spuren durch Erde. Es sind organische Abdrücke des Lebendigen, entstanden durch zersetzende Prozesse auf toter Substanz.
Erschütternd leise ist Linnéa Ryshkes Arbeit: Bone-Stones verarbeitet achtlos entsorgte Hühnerknochen zu Grabstein-Objekten. In einer Industrie, in der 95 % aller Tiere Hühner sind – ohne Namen, ohne Grab, ohne Geschichte –, werden ihre Knochen zur Geologie. Erde, so heißt es an einer Stelle, ist ein „Archiv anthropogener Gewalt“.
Denken in Sedimenten
Erdlinge ist ein leises, zugleich durchdringendes Buch. Es bleibt nicht bei ökologischer Kritik, sondern geht darüber hinaus – ins Poetische, ins Rituelle, ins Nicht-Nutzbare. Jessica Ullrich ist es gelungen, die Erde nicht als Ressource, sondern als Resonanzraum zu zeigen. Kein Buch, das auftrumpft. Aber eines, das haften bleibt. Wie der Geruch feuchter Erde, lange nach dem ersten Regen.
Zur Herausgeberin
Dr. Jessica Ullrich ist Honorarprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetik an der Kunstakademie Münster. Sie hat unter anderem zur Wachsskulptur und zu Animal Studies publiziert und ist seit 2012 Herausgeberin der Reihe Tierstudien. Der vorliegende Band versammelt Beiträge u.a. von Veronika Beck, Filippo Bertoni, Laura M. Reiling, Nicola Kopf und Nina-Marie Schüchter sowie künstlerische Arbeiten von Claire Pentecost, Daro Montag, Jenny Kendler und Linnéa Ryshke.
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