Selbstwert

Vorlesen

Bereits als Kind war es das schönste für dich, wenn alle Familienmitglieder zusammenkommen, sich Unterhalten und miteinander lachen. Schon damals wolltest du selbst einmal eine große Familie haben.

Du warst ein mutiges Kind – hast dich immer für dich und andere eingesetzt und dich gegen jede Ungerechtigkeit gewährt.

Für deine tablettenabhängige Mutter war dein Bruder immer wichtiger als du. Du konntest nie über Ängste und Sorgen mit deiner Mutter sprechen. Dir wurde früh beigebracht, dass man Probleme lieber für sich behält – es könnte sich ja jemand aufregen.

Du hast geheiratet und vier Kinder bekommen. Du bist immer für deine Familie da – rund um die Uhr. Egal ob es dir schlecht geht, du krank oder schwanger bist oder einfach nur schlafen willst.

Du selbst hast keine Bedürfnisse, keine Wünsche und doch werden deine Bemühungen für die anderen niemals genug sein. Du richtest Feste aus, kümmerst dich um deinen Mann. Kochen und Putzen erledigst du mit zwei Kindern auf deinem Armen.

Es gibt oft Streit in deiner Familie. Dein Mann ist zwar wirtschaftlich erfolgreich, aber willensschwach und unzuverlässig. Und so kommt, was kommen muss - der wirtschaftliche Abstieg. Und so geht ihr getrennte Wege. Eine richtige Beziehung ist es ja schon lange nicht mehr.

Also musst du jetzt arbeiten, musst deine Kinder und deine verwitwete Mutter allein versorgen. All der Druck, die Ängste und die Zweifel bleiben in dir, denn so fühlt es sich richtig an.

Sage mir, haben sie es dir jemals gedankt? Haben sie jemals respektiert, dass auch du Grenzen hast, dass auch du Gefühle hast, dass es auch dir Mal schlecht gehen kann und auch du einmal kraftlos bist?

Deine Tochter hat dich einmal mitten in der Stadt als Hure beschimpft - viele konnten es hören. Deine kranke Mutter pfurzt dir ins Gesicht als du ihren Kot beseitigst. Dein Sohn lässt dich jahrelang arbeiten, um sein Leben zu finanzieren.

Deine Schwiegersöhne bedrohen die körperlich, weil sie alkoholisiert sind oder mit ihrem Leben nicht zurechtkommen.

Du ziehst niemals Konsequenzen.

Als deine Tochter Krebs bekommt fragt sie dich, warum du keinen hast. Denn Menschen, die sich „knechten“ bekämen häufiger Krebs sagt sie.

Egal wie alt dein Mann und deine Kinder werden, ihr Verhalten werden sie nie ändern. Egal ob es vier Uhr früh oder zwölf Uhr abends ist – Mutti ist immer zur Stelle.

Du bist Mitte Sechzig und arbeitest noch – und dann bekommst auch du Krebs.

Gefällt mir
6
 

Weitere Freie Texte

Freie Texte

Der stürmische Frühlingstag von Pawel Markiewicz

Pawel Markiewicz

Der grüne sanfte Lenz kam auf eine bunte Weise an mit ihm die numinose Bläue zarten Himmelszaubers doch ich schwärme hold-zärtlich von wilden Gänsen und Störchen die vor milden Wochen heimatwärts angeflogen kamen so wunderschön-fein scheint und funkelt meine lichte Heimat die tiefblauen Veilchen voller Glanz gaben lichtes Haus um ich sah mir zwei Schmetterlinge beim Träumen und Schwärmen an einer davon setzt sich auf den Kelch des Veilchens neuen Drangs zweiter Schmetterling fliegt im Lenzsturm ...
Freie Texte

Fiona: Hoffnung

FIONA

Die Hoffnung klopft, so zaghaft sacht, doch bricht sie jedes Mal bei Nacht. Auch wenn sie den tag über nur lacht Hält sie der gedanke trotzdem die ganze Nacht wach Es wird bestimmt klappen Und ich kann es auch schaffen Und ich werde mich auch trauen, ... doch ... ich könnte es auch versauen Die Hoffnung, einst so zart und klein, ertrank in Tränen, kalt und rein. Sie fragt nicht mehr, warum, wofür, denn jede Antwort schweigt in ihr. Hoffnung nur ein positives Gefühl Sie glaubte daran doch dass ...
lesering
Freie Texte

Die Sehnsucht. Pindars Ode

Paweł Markiewicz

Du wie die Träumerei geboren von dionysischen Oden wie zarter Tag in deinem Wind – verzaubertem Schmetterling so wie das Goldene Vlies – zauberisch in der anmutigen Phantasie graziöses Paradies verloren ist doch gefunden und so schwärmerisch Du lotos-zärtlicher Tagfalter du – über den Vulkanen mit sanfter Flügel-Verzaubertheit verewigt in den Zeiten Ich möchte sein wie Du und ewige dankende Augen ein Heer der Gefühle scheint in fernen Mythen Ländern Ich wäre linder und unendlich wunderbar wie ...
lesering
Freie Texte

Irena Habalik: Hinter den geschlossenen Türen

Irena Habalik

werden die Gabeln poliert für die nächste Zugabe wird Posaune geübt für das Jüngste Gericht zu große Brust flach gelegt und geschmeckt zu kleiner Kopf in den Topf gesteckt wird laut diskutiert über die Abwesenheit der Milch wird geklagt über das Nachlassen der Schwerkraft Hinter den geschlossenen Türen wird die Liebe kalt begossen werden die Messer gewetzt, in die Tasche gesteckt die Unwahrheiten serviert zu den Mahlzeiten wird Brecht zitiert und Benn applaudiert das Perverse wird hier probiert ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Maxima Markl: Zeit

Maxima Markl

Ich schaue auf die Uhr vor, nach und während einer Tat die Zeit vergeht wenn ich nicht hinschaue Das Ticken einer Uhr ein Herzschlag Bist du tot, bleibt die Zeit für dich stehen Du veränderst dich nicht Bleibst gleich Bis die Zeit alle geholt hat Die sich an dich erinnerten Und die Uhr tickt weiter Früher gab es keine Uhr Keine Zeit Die Tage verschmolzen ineinander Aber es gab auch keine Tage Nur hell und dunkel War die Zeit dazwischen Sie floss wild Ungebändigt Und doch so stetig Bis man ihr ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Gabriele Ejupi: Die Last

Gabriele Ejupi

Der Schnee lastet schwer auf den Zweigen. Sie senken sich unter dem Druck, geben nach, verlieren ihren Widerstand. So lastet auch die Bürde des Lebens auf unseren Schultern, und auch wir geben nach, gehen nicht mehr so aufrecht wie einst. Wir versuchen, einiges abzuschütteln, die Last zu vermindern, sie in eine weit entfernte Ecke zu schieben. War es wirklich wichtig? Nicht alles verdient es, bis ans Ende unserer Tage getragen zu werden. Erinnerungen verblassen, und mit ihnen wird die Last ...

Aktuelles