Alexander Kluge: "Zirkus/Kommentar" Das verschwundene Spektakel

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Alexander Kluges Buch "Zirkus/Kommentar" ist ein Sammelsurium diverser Erfahrungen, Rückblicke und Erzählungen. Dokumentarisches reiht sich an persönliche Erfahrungen. Im Mittelpunkt steht dabei die Funktion des Kommentars. Bild: Suhrkamp Verlag

Was bedeutet es, wenn Spektakel geruchlos wird? Wenn Dreck verschwindet? Was geht verloren, wenn wir uns lediglich auf das "allgemein Verfügbare" konzentrieren. Und was wäre ein geeigneter Gegenentwurf? Der große Denker Alexander Kluge hat mit "Zirkus/Kommentar" zu seinem neunzigsten Geburtstag ein Buch vorgelegt, in welchem er Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft ins Licht der Manege stellt. "Zirkus/Kommentar" erschien gemeinsam mit "Das Buch der Kommentare".

Dass Alexander Klug an den Zirkus als Topos des Widerstandes interessiert ist, wurde bereits in seinem 1968 uraufgeführten und preisgekrönten Film "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" deutlich. Damals arbeitete sich Kluge an den "Berliner Filmfestspielen" ab, die ihn frustrierten und in denen er, so kann man annehmen, die Leistungsgesellschaft mit Kunstglasur überzogen erkannte. Der Film zeigt, wie große Ideen mehrmals sterben können: Erstens mit dem Tod ihrer Erfinder, zweitens aufgrund plötzlich eintretender Bequemlichkeit, drittens durch Zweifel und Angst, viertens schließlich, durchs Fernsehen. Was Kluge mit seinem Buch "Zirkus/Kommentare" uns nun zu seinem 90 Geburtstag vorlegt, steht dem damaligen Film, jedenfalls aus konzeptioneller Sicht, sehr nahe. In "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" wirkten montageartig eingefügte Sequenzen und dokumentarisches Zusatzmaterial wie eingeschobene, kontrastierende Kommentare zum festen Thema "Leistung und Rebellion". In "Zirkus/Kommentare" nun, kommentiert Kluge bereits Geschaffenes.

"Wandergewerbe"

In die Manege wirft Kluge alte Gedanken und neu Gedachtes, um im Changieren zwischen den einzelnen, oft nur sehr kurzen, Gedankenfetzen auf die Gegenwart zu rekurrieren. Was dabei wiederholt wichtig gemacht wird, ist die sinnliche Erfahrung des Zirkus. Das Spektakel, das uns voll und ganz umschließt, überhaupt das Geschlossene, der Kreis, das von Staunen umgeben sein; die wache und hochkonzentrierte Lebensmüdigkeit der auf den Seilen Tanzenden, die offenen Münder im Publikum. Gefahr, Spannung, Glück, Angst.

Kluge schreibt von einem Bombergeschwader des chinesischen Staatsführers Tschiang Kai Schek, das sich "Zirkus" nannte. Anstatt aggressiv anzugreifen oder sich auch nur kriegerisch zu verteidigen, wich die "junge Luftmacht" den japanischen Streitkräften ganz einfach aus. Kluge Schreibt: "Auf Paraden war sie etwas Reales, im Kampf mit einer modernen Großmacht war sie ein Schattenspiel. Wandergewerbe."

Der "Kommentar"

In einem nächsten, mit "Sturmwarnung" überschriebenen Text, heißt es: "Die Anker für die Leinen, die das große Zelt sicherten, waren in den Lössboden tief eingerammt. Wir bildeten aus Käfigen und Wohnwagen einen Windschutz" - Momente zwischen Vorwarnung und eintreffendem Ereignis, bildhaft dargestellt in wenigen Zeilen. Kluge schreibt von nahbaren Leben, von Existenzen, von Liebenden. Ein Beisammensein in Erwartung des "mauerartig gegen das Zelt rammenden Regens"

An einer anderen, früheren Stelle im Buch, führt Kluge seine Gedanken zum "Kommentar" aus. Dieses sei eine Ausdrucksweise, die das Besondere ebenso wie die Einzelheit gegen das "allgemein Verfügbare" verteidigt. Vielleicht ein Anker im Lössboden? In "Sturmwarnung" tritt dem "bloß allgemein" Verfügbaren der Regen als das Unverfügbaren entgegen (ein Begriff, der auf den Soziologen Hartmut Rosa zurückgeführt werden kann). Der Sturm, der Regen - das sind Phänomene, die wir uns unter keinen Umständen aneignen können. Und ausgerechnet hier, ohnmächtigen diesen Phänomenen gegenüber, breitet sich eine sonderbare zwischenmenschliche Sphäre aus.

Der Kommentar, das machen Kluges Ausführungen deutlich, besitzt die Kraft, etwas scheinbar Abgeschlossenes wieder in Gang zu setzen, Richtungen zu ändern, neue Pfade ins Gebüsch zu treten, Zusammenhänge zu schaffen. Wie der Meißel des Bildhauers auf Stein trifft, treffen KommentatorInnen auf geschlossene Systeme, schöpfend durch die Korrektur und immer in dem Wissen, dass ihr Kommentar wiederum zu kommentieren sein wird. Stillstand ist der Feind dieser Form der Anmerkung.

Das Brennen der Elefanten

In "Zirkus/Kommentar" treten Philosophen, Freiheitskämpfer, Spieler und Artisten auf. So erfahren wir beispielsweise von der Zirkus-Leidenschaft Walter Benjamins, den man stets "als Produzent, nicht als Konsument", schreibend in einer der Logen sitzend sah. Wir sehen, wie Elefanten verbrennen. Wir folgen der Zirkusgeschichte durch Kriege, Flammen, Systemwandlungen und Pandemien hindurch. Natürlich flammt die Französische Revolution am Horizont auf, Umwälzungen, die das Wandergewerbe bedrohten. Die Texte werden von Abbildungen begleitet, Zeichnungen, Malereien, Fotos und Filmstills. Auch QR-Codes finden sich auf einigen Seiten. Sie verweisen auf filmisches Material (Filmtriptychon) von Kluges Produktionsfirma dctp.tv.


Alexander Kluge - "Zirkus/Kommentar", Suhrkamp Verlag, 2022, 167 Seiten, 28 Euro

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